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Familienbande | September 2016

Fahrgastzähler
von Bernd Kleber

Nun kam ihm wieder dieses schlechte Gewissen auf, als er die alte Dame sich mühselig an der Haltestange festklammern sah. Aber es war sein Arbeitsplatz, auf dem er saß, konnte ihn gar nicht frei machen. Der Sitz hinter der Plexiglasscheibe des mittleren Ausstiegs. Der Ausstieg, der auch als Einstieg benutzt werden konnte, von Benutzern eines Kinderwagen, Rollstuhles, Rollators oder Fahrrades.
Da thronte er, auf dem Schoß die Aktentasche. Im Innern gluckste bei jeder Bodendelle der Kaffee in der Thermoskanne. An den Endhaltepunkten trank er diese lauwarme Brühe. Wenn der Busfahrer zugänglich war, unterhielt er sich mit ihm, während er das neue Erfassungsblatt für die nächste Streckenführung auf dem Klemmboard zurechtrückte.
Fahrgastzähler… wer hätte das gedacht. Nun hatte er eigentlich gehofft, seine Rente genießen zu können, aber nach der letzten Mieterhöhung reichte es nicht aus. Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Dieser stupide sitzplatzraubende Job gab ihm die Möglichkeit, sich mal eine Flasche Wein zu leisten.
Der Bus hatte die große Wendeschleife genommen, an der Ersthaltestelle standen viele Fahrgäste. Er sah sich gerne die Leute an und ahnte oder erdachte sich deren Geschichten. In den Gesichtern spiegelten sich ganze Lebensläufe. Da war er geübt. Hätte man ihn gefragt, er hätte Weissager-ähnliche Dinge behauptet.
Da gab es den Jungen, der zu Hause Ärger hatte, vermutete er. Immer zu blass, immer zu ernst. Den Blick gesenkt, vermeidend, man könnte ihm ansehen, dass er wieder eine schlechte Note in der Klassenarbeit geschrieben hatte. Seine Hände waren nie offen, immer hielt er die Daumen fest. Und mit diesen Fäusten zog er auch seine zu weite Hose hoch. Vielleicht knabberte er an den Nägeln und versteckte diese so… Angewöhnt und so verräterisch.
Oder die flotte Biene von ungefähr 60, die jeden Mittwoch zum Tanztee in die Masurenstraße fuhr. Aufgedonnert wie eine alte Fregatte. Und in Vorahnung auf ihre Kavaliere ein verträumtes Lächeln im Gesicht. Sie war umhüllt von süßem Duft gleich einer schweren flauschigen Stola.
Da war dieser Mann, Südländer. Hilfsbereit, als erwarte er einen Orden. Diese Hilfsbereitschaft, die anderen das Gesicht öffnete und ein Nicken entlockte. Der Personen mit Kinderwagen hinein und heraus half, seinen Platz anbot, andere freundlich zum Weitergehen im vollen Gang aufforderte oder ein Busfenster zuklappte, wenn es zu sehr zog.
Es war ein Mikrokosmos der Gesellschaft im Bus. Und es waren diese kleinen Geschichten, die ihm gefielen. Er klickte jedes Mal seinen Zähler in der Faust, las ihn nach Schließen der Türen ab und übertrug die Anzahl ausgestiegener Fahrgäste in die Zeile der Haltestelle.
Masurenstraße ... 10
Cottbusser Allee ....5
Mariengasse ..........2
Bismarckallee .......14
Und so weiter…. Wenn niemand ausstieg und der Bus durchfuhr, weil auch nicht einer einsteigen wollte, musste er aufpassen, nicht zu sehr zu träumen… und eine Null eintragen…. Diese Daten musste er nun drei Monate „erheben“. Die Abteilungsleiterin Personenbeförderung hatte es ihm so motivierend erklärt, als hinge von ihm allein der gesamte Nahverkehr des Ortes ab.
Also saß er klickend am Ausstieg und erfüllte seinen Zweck im großen Getriebe des Busverkehrs der Stadt.
Da! Da war sie eines Tages, die Frau, die ihn so erschreckt hatte. Einem Widerschein gleich war das Gesicht bis auf seine Höhe gekommen. Sie hatte sich an die Scheibe vor seinem Sitz gestellt und ins Leere geblickt. Aber sein Gesicht, dem ihren gegenüber, der Glasgrenze zwischen ihnen, war ihm unheimlich. Als sähe er in die feminine Variation seines Gesichtes.
Jetzt nickte sie ihm grüßend zu, wie sie es, seit der zweiten Begegnung, jeden Tag tat. War ihr auch eine Ähnlichkeit aufgefallen?
Wer war die Frau? Er sollte sie fragen. An dieser Station war der Bus gewöhnlich sehr voll. Eigentlich war im Fahrgastraum kaum noch ein Durchkommen. Die Dame kam noch bis zu dieser Glasscheibe am Austritt, und weiter wäre gar nicht möglich gewesen. Er hatte sich einen Plan erdacht. Und heute würde er ihn umsetzen. Er hielt einen Zettel gegen die Scheibe, nur postkartengroß. Sie lächelte und nickte… dann stieg sie aus.
Am Folgetag hielt er einen neuen Zettel an die Scheibe des Platzes, den die Dame schnell aufgesucht hatte. Sie las und schüttelte den Kopf, die Schultern dabei angehoben…
Tags darauf kam sie leider nicht bis an die Scheibe, aber er hielt kühn den Zettel in den Gang. Sie bemühte sich, ihn zu lesen, andere Bus-Insassen halfen und lasen vor. Dann lächelte sie und nickte eifrig, bevor sie ausstieg und von der Straße aus ihn ansah und hilfesuchend die Arme hob.
Er konnte kaum den nächsten Tag erwarten, saß und klickte, träumte und betrachtete nicht wirklich die bekannten Gesichter. Bis der gefüllte Bus die Haltestelle erreichte, die ihm so wichtig geworden war.
Sie schob und drängte durch den vollen Gang. Er beobachtete, wie sie sich da und dort entschuldigte, bis sie an der Scheibe stand und mit den Augen nach einem Blatt Papier suchte. Er hatte sich nicht gleich gewagt. Dann hob er seine Frage, nachdem sie ihn mit der Hand wedelnd aufforderte. Sie las, sah ihn an, las erneut und blickte ihm lange in die Augen, ohne Reaktion. Es war ein bisschen, als würde die Zeit für Sekunden in Zeitlupe laufen und alle Geräusche auslöschen.
Der Bus hielt an der Haltestelle, an der sie sonst ausstieg. Leute drängten auszusteigen. Er klopfte an die Scheibe. Es gab laute Stimmen, der Bus knatterte und brummte. „Geht es denn dann da nicht weiter?“ Sie wirkte einen Atemzug lang, als wolle sie nicht aussteigen, wurde aber mitgerissen, stürzte fast hinaus. Ihm entfuhr ein: „Ohhhh!“
Auf der Straße nickte sie heftig und winkte. Ein Winken, dass es aussah, als wolle sie ihn zu sich rufen.
Mit heftigem Herzklopfen war er nach dieser Tour nach Hause gekommen und besah seine Zettel:
Sind Sie aus Schlesien?
Haben Sie Geschwister?
Hatten Sie einen Bruder in ihrer Kindheit?
Heißt oder hieß Ihre Mutter Doris?
Und er schrieb seinen neuen, letzten Zettel, den er sicher nicht benutzen würde. Er würde sich nicht auf seinen Arbeitsplatz setzen, sondern an der Bustür warten…
Ich bin Klaus, der auf der Flucht bei Tante Liesel geblieben war …

Letzte Aktualisierung: 18.09.2016 - 14.09 Uhr
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