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Familienbande | September 2016

Ludmillas Familienclan oder Die Hundertjährige, die nicht aus dem Fenster stieg
von Eva Fischer

Ich wurde am 8. September 1916 geboren zu Mariä Geburt, weshalb mich meine Mutter auch Maria nennen wollte. Doch sie konnte sich nicht durchsetzen gegen meinen Vater, der mich mitten im Ersten Weltkrieg zeugte, aber dann wieder verschwand, weil sein Weihnachtsurlaub vorbei war. Er kämpfte mit in der Schlacht von Tannenberg, was ihm wohl seine Liebe für den Namen Ludmilla einbrachte. Wie jeder weiß, nutzte den Deutschen der Sieg gegen die Russen nichts, auch wenn sie sich schlau dünkten, als sie Lenin aus dem Schweizer Exil in einem verplombten Wagen nach Petersburg passieren ließen. Die Geschichte lehrte etwas anderes.

Jedenfalls kam mein Vater ohne größeren Schaden an Leib und Seele am Ende des Krieges zurück. Die zweijährige Tochter beäugte er etwas misstrauisch und machte sich gleich an die Produktion eines weiteren Kindes, meines jüngeren Bruders. Der weilt aber mittlerweile nicht mehr unter den Lebenden und steht somit nicht auf meiner Gästeliste.

Mein hundertster Geburtstag ist in Vorbereitung und ich könnte wie Allan Karlsson aus dem Fenster steigen und verschwinden. Karlsson ist eine Fiktion, ich nicht, wie jeder nachprüfen kann. Ich wohne im St. Hedwig-Stift in Bergheim. Nicht, dass ich nicht gut zu Fuß wäre. Also rein theoretisch könnte ich auch aus einem Parterrefenster steigen. Mein Pflegepersonal kann Ihnen bestätigen, dass ich morgens mühelos aus dem Bett komme. Höchstens mit dem Abends-ins-Bett-Gehen habe ich Schwierigkeiten. Ich bin nachtakiv wie meine Katzen, die ich mal hatte, bevor man mich in dieses Seniorenheim steckte. Angeblich war ich eine Gefahr für die Menschheit, weil ich nachts durch die Straßen spazierte oder eine Gefahr für mich selbst, wie es mein lieber Sohn Boris ausdrückte. Der Teufel soll ihn holen! Aber er ist schon über siebzig, in seinen und meinen Augen ein alter Mann. Da muss man Nachsicht walten lassen. Schließlich wird von einer weißhaarigen Dame erwartet, dass sich mit dem Alter auch Weisheit einstellt. Mit neunzig habe ich aufgehört, meine Haare kastanienbraun zu färben, ein großer Fehler, wenn Sie mich fragen.

Aber ich schweife ab. Leider auch so eine Unart, wenn man älter wird.
Also, mein hundertster Geburtstag steht vor der Tür. Eigentlich kann ich den Karlsson gut verstehen, wenn er abhaut, denn so prickelnd ist das nicht, wenn der Sohn alle 10 Jahre in etwa die gleiche Rede über einen hält. Er denkt tatsächlich, ich merke das nicht. Ganz abgesehen davon weiß ich, wer ich bin, und muss mir es nicht jedes Mal in neuem Aufguss erzählen lassen.

Außer meinem Sohn wird meine Schwiegertochter Margarete erscheinen. Sie ist zwar fitter als mein Sohn, was sie aber nicht hindert, in epischer Breite über diverse Wehwechen zu lamentieren. Wen interessieren die schon? Sie hat eine jetzt fünfunddreißig-jährige Tochter, Sybille mit Namen, die ihr zwei reizende Enkelkinder geschenkt hat. Louisa ist fünf, Simon ist drei. Margarete gerät jedes Mal in Verzückung, wenn sie von ihren Enkelkindern spricht. Sybille ist ja mein Enkelkind, aber da hat mich nie irgend etwas entzückt. Sie hat als verwöhntes Einzelkind die Familie terrorisiert und wenn ich ihr mal einen Klaps gegeben habe, hat Margarete mich gleich der Kindesmisshandlung bezichtigt.

Keiner kann sagen, dass ich mich besonders auf meinen Familienclan freue, aber im Gegensatz zu dem Feigling Karlsson, dem Sprengstoffexperten, weiß ich, dass Bleiben manchmal Mut erfordert und ich bin ja auch eine Frau. Ich kneife nicht.

Die alljährlichen Geschenke sind ebenfalls keiner Traumfabrik entsprungen.
Von meinem Sohn bekomme ich ein Fresspaket, als steckten wir noch mitten im Ersten Weltkrieg. Wie Sie sich ausrechnen können, ist er kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges geboren und da gab es tatsächlich wenig zu essen. Daher vermute ich, dass Bohnenkaffee und Pralinen in seinen Augen immer noch ein Schatz sind. Eine Flasche Champagner wäre mir lieber, aber das ist für eine Hundertjährige so unanständig wie ein Pornoheftchen.

Meine Enkeltochter Sybille beglückt mich immer mit einem Seidenschal. Ich habe schon eine ganze Sammlung in diversen Aquarelltönen. Offensichtlich will sie, dass ich meinen knittrigen Hals verhülle. Ein paar Zigarillos wären mir lieber. Früher habe ich Davidoff geraucht, bis man meine Rente für dieses Seniorenheim verpulvert hat. Ich bin keine Materialistin, aber so ohne Taschengeld führt man ein Hundeleben.
„Du bekommst doch alles, Mutti“, höre ich meinen Sohn immer sagen. Ja, was bekomme ich denn? Stilles Wasser und Tiefkühlkost, die man besser ihrem Dornröschen-Schlaf überließe, anstatt sie aufzutauen und einem die letzte Illusion zu rauben. Essen kann lecker sein. Zumindest, als ich noch gekocht habe oder einmal die Woche mit Wilhelm in ein feines Restaurant gegangen bin.
Nun wollen Sie wissen, wer Wilhelm war. Nein, nicht mein Ehemann! Der war eher von der sparsamen Sorte. Dabei haben wir doch gelernt, dass Sparen nichts bringt. Die Inflation frisst alle Ersparnisse auf wie nach dem Ersten Weltkrieg oder es wird eine neue Währung eingeführt wie nach dem Zweiten Weltkrieg. Dann fangen alle Sparer wieder bei Null an oder man halbiert einfach den Geldwert und nennt die Mark Euro. Mittlerweile werden außerdem die lukrativen Zinsen weggelassen. Wenn sich das Geld nicht vermehrt, dann macht das Sparen eben keinen Spaß. Von mir ist jedenfalls nach meinem Ableben nichts zu holen!

Also, der Wilhelm war der jüngere Bruder meines Mannes, der nie geheiratet hat, weil er mich verehrt hat. Leider ist er jetzt auch schon tot. Dass die Männer immer so schnell schlapp machen müssen!

Aber wo war ich? Ach ja, bei den Geschenken.
Der kleine Simon wird mir ein Bild malen. Ich werde über das Krikelkrakel in Entzücken geraten müssen, sonst werden Sybilles Blicke zu Dolchen.
„Für meine Ur-tick-tack-oma!“, wird er krähen und alle werden lachen, weshalb es der schlaue Simon gleich noch einmal wiederholen wird. Ich bin mir nicht sicher, wer hier eigentlich richtig tickt. Und Louisa wird ihn zur Seite schubsen, weil „the show must be mine“ und sie wird mir eine Rose überreichen, die schon zu lange in der Kinderhand zugebracht und etwas an Elastizität eingebüßt hat. Gerade richtig für eine Hundertjährige!

Der Pfarrer aus dem St. Hedwig Stift wird zugegen sein mit der letzten Ölung im Handgepäck. Man weiß ja nie in meinem Alter! Und ein Abgeordneter unseres Stadtrates wird es sich nicht nehmen lassen, mir die Hände zu schütteln. Der „Bergheimer Stadtanzeiger“ schickt keinen mehr vorbei, denn Hundertjährige sind heutzutage keine Seltenheit mehr. Traurig bin ich darüber nicht, denn die Fotos in der Zeitung sind meist nicht gelungen. Sie retuschieren zwar Stars, aber unsereins bekommt noch ein paar Falten extra und eine ungünstige Beleuchtung dazu. Na ja, wenn mir alles zuviel wird, dann mache ich mein Hörgerät aus und lächle alle nur an. Mehr wird von mir eh nicht erwartet.

*

„Frau Dorndorf! Machen Sie doch bitte die Tür auf!“
Ist schon ein Kunststück, die Tür ohne Schlüssel zu versperren, nicht wahr? Ich habe meinen Tisch und die Stühle davor geschoben. Im Gefängnis werden alle weggeschlossen, hier besorgen das die Insassen selbst, wenn man sie ließe.

„Frau Dorndorf! Wir müssen Sie doch noch schön machen. Ihre Gäste kommen gleich!“
Was die unter „Schön“ verstehen! Gebiss rein, einmal über die Haare gehuddelt und gut ist.

Wo bleibst du Allan Karlsson? Kannst du mich nicht entführen oder dieses Etablissement zumindest in die Luft sprengen? Fiktion hin, feige her!!!

Letzte Aktualisierung: 02.09.2016 - 19.52 Uhr
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