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Familienbande | September 2016

Gradlinig
von Jochen Ruscheweyh

Am Vorabend seines sechzehnten Geburtstags eröffnete sein Vater Daniel, dass ihre Familie dazu bestimmt sei, die Welt zu beherrschen und seine Aufgabe bestünde darin, Daniel in die jahrhundertealten Riten ihrer Vorfahren einzuführen, so wie es einst sein Vater bei ihm getan hätte.

Er ließ Daniel nicht einmal Zeit, ein paar Sachen zusammenzupacken, sondern drängte ihn, in ihr Auto zu steigen.
Als er sich weigerte, holte der Vater– was er noch nie getan hatte - aus und verpasste ihm eine Ohrfeige, die so heftig war, dass es sich anfühlte, als wäre sein Wangenknochen gebrochen, verdrehte ihm den Arm und schob ihn in den Innenraum des Wagens.
Daniel hätte das Ganze vielleicht noch ansatzweise nachvollziehen können, wenn sein Vater in den Jahren zuvor irgendeine Art von Interesse für ihn aufgebracht hätte. Aber weder das Totenkopf-Tattoo auf Daniels Unterarm noch die gelegentlichen Escort-Heimfahrten mit der örtlichen Polizei hatten eine Reaktion bei seinem Vater provoziert, woraus Daniel die Schlussfolgerung zog, er wäre seinem Vater gleichgültig.

Auf der Autobahn stellte sein Vater einen fremdsprachigen Sender ein, auf dem Musik lief, die Daniel weder schon einmal gehört hatte, noch stilistisch einordnen konnte. Daher vermutete er, sie müsse orientalisch sein.
Hatte er zuvor den Verdacht gehabt, sein Vater wäre psychisch krank, so war er nun überzeugt, dass er ein Schläfer sein musste.
Mit einem Mal wurde ihm bewusst, wie fremd sein eigener Vater ihm doch eigentlich war. Daniels einziges Bestreben hatte darin bestanden, ihn für sich zu interessieren, ihn neugierig, wütend, traurig oder stolz zu machen. Aber wie sah das Leben, das sein Vater neben ihm lebte, eigentlich aus? Gab es außer dem namenlosen Arbeitskollegen, der jeden Morgen in seinem verbeulten Sierra unten an der Straße auf seinen Vater wartete – vielleicht ebenfalls ein Schläfer? -, noch andere Bezugspersonen?
Irgendwie schienen sich Daniels Mutter, seine Großeltern, Onkel, Tanten, Cousinen und Cousins, einfach alle, die ihm einfielen damit abgefunden zu haben, dass sein Vater ein merkwürdiger Kauz war, der sich auf Familienfeiern meist mit einem Stapel Illustrierter in einen Sessel zurückzog und erst dann wieder in Erscheinung trat, wenn es darum ging, seine Mutter und Daniel wieder nach Hause zu fahren.
Verwandte väterlicherseits gab es nicht, und wenn Daniel richtig darüber nachdachte, hatte er auch nicht die leiseste Ahnung, wie sich seine Eltern kennengelernt hatten. Wie die recht gutaussehende, witzige und charmante Frau, die seine Mutter meist war, sich in diesen Langweiler verliebt hatte.
Oder handelte es sich bei der Ehe seiner Eltern um reine Zweckmäßigkeit, damit sein Vater eine bürgerliche Existenz vorweisen konnte, eine Basis, bis der Weck-Befehl kam?
Entführte sein Vater ihn aus einem wichtigen Grund und würde sich in wenigen Stunden eine ganz neue Welt für Daniel eröffnen?

„Da drüben“, unterbrach sein Vater Daniels sich überschlagende Gedanken und deutete auf die Silhouette von Bayer Leverkusen, „die kontrollieren wir auch.“
Daniel nickte, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, wer Bayer kontrollieren könnte, außer vielleicht das Kartellamt oder irgendwelche Aktionäre, zu denen sein Vater aber ganz sicher nicht gehörte. Übelkeit kroch ihm die Speiseröhre herauf und entlud sich in schaumigem Aufstoßen.

„Was ist mit Mutti? Sie wird sich sicher Sorgen machen“, sagte Daniel nach einer Weile.
Sein Vater antwortete ruhig und mit derselben emotionslosen Stimme, mit der er kurz zuvor die Verbindung zu Bayer angedeutet hatte: „Vergiss sie.“

„Was hast du gesagt, wie lange wir noch fahren?“
„Ich habe gar nichts gesagt. Aber es dauert nicht mehr lange.“
Der Tacho zeigte 150 km/h. Wenn Daniel bei diesem Tempo die Tür öffnete und sich herausfallen ließ, würde er das nicht überleben, soviel stand fest.
„Hast du ein Handy? Dann gib es mir!“, bestimmte sein Vater.
Daniel streckte sich, griff in seine Hosentasche, zog sein Nokia heraus und gab es seinem Vater.
„Guter Junge“, sagte dieser, ließ die Scheibe herunter und warf es hinaus. „Und falls du auf die Toilette musst, im Handschuhfach, ist eine dickwandige Tüte. Piss da rein und mach anschließend einen Knoten oben rein.“

Es war wahrscheinlich eine Art Schockzustand, in dem er sich befand, denn als Daniel versuchte, sich in Erinnerung zu rufen, welche Crime-Serien er in letzter Zeit gesehen hatte und ob darin Auto-Entführungen vorgekommen waren, fühlte sich sein Kopf wie leergefegt an.
Ohne Vorwarnung schaltete sein Vater das Warnblinklicht ein und fuhr rechts ran. Automatisch griff Daniel nach dem Türöffner und stieß die Tür auf, versuchte sich unter dem Sicherheitsgurt durchzuschlängeln, als sein Vater ihm einen Lappen auf den Mund presste.


„Zieh das an, wenn du wach bist!“, hörte Daniel die Stimme seines Vaters von weit weg. Es war so schwer, die Augen zu öffnen. Eine neue Welle der Müdigkeit kam über ihn und wieder sackte er weg.


Die Sonne schien durch zwei große altmodische, bis zum Boden reichende Fensterflügel in den Raum hinein. Daniel rieb sich die Augen, wunderte sich, dass er unbekleidet geschlafen hatte und schlüpfte in den Bademantel, der über dem Bettende hing. Anschließend fuhr er mit der Hand über die holzvertäfelten Wände und deren altertümliche Schnitzeinlagen, die ihn an ein Museum erinnerten, das sie einmal mit der Schule besucht hatten.
Die Fensterverriegelung ließ sich öffnen, also trat er auf die Terrasse hinaus. Vor ihm lag ein riesiger Garten, mit Sträuchern, Hecken und einem verzweigten Wegesystem, so weit er blicken konnte. Die Terrasse selbst war mit einem stählernen Geländer eingefasst und zog sich über die gesamte Breite des Hauses.
Die Helligkeit des Tageslichtes schmerzte ihn in den Augen, deshalb ging er wieder hinein.
Hinter einer Tür verbarg sich ein - wie er fand - luxuriös ausgestattetes Badezimmer. Als er sich nach dem Duschen im Badezimmerspiegel betrachtete, entdeckte er, dass sich seine Wange bläulich zu verfärben begann.
Vielleicht lag es an der Betäubung, die sein Vater ihm gegeben hatte, jedenfalls war sämtliche Angst, die ihn noch im Wagen gelähmt hatte, einer ungestümen Neugierde gewichen und er tat etwas, wogegen er sich bisher immer gesträubt hatte: Er zog das Oberhemd, das Jackett und die Faltenhose an, die vermutlich sein Vater für ihn bereit gelegt hatte, streifte sich die vorbereitete Krawatte über den Kopf und zog den schon locker gebundenen Krawattenknoten fest.

Bei seinem Anblick verbeugten sich die Bediensteten draußen auf dem Flur und verharrten in dieser Haltung, bis er an ihnen vorbeigegangen war.
Mit den Worten: „Da bist du ja endlich!“, hakte sich eine Frau in einem Cocktailkleid bei ihm unter, küsste ihn auf die lädierte Wange und fügte hinzu: „Keine Sorge, das wird schon wieder. Manchmal verleiht er seinen Worten ein wenig Nachdruck. Ich bin übrigens deine Cousine Fiona.“

Sie führte ihn durch eine Tür in eine Art Loge, von der aus sie auf einen antiken Plenarsaal hinabschauten, und bedeutete ihm, sich zu setzen. „Ich habe so lange auf dich gewartet“, flüsterte sie.
„Auf mich?“
Sie nickte. „Ich habe dich aufwachsen sehen, habe jeden deiner Schritte mitverfolgt, dein Hadern, dein Zögern, deine Wut, dein Scheitern, all das war notwendig, um dich auf deine Rolle vorzubereiten.“
„Nimm es mir nicht übel, Fiona, aber ich hab nicht die geringste Ahnung, was das hier alles zu bedeuten hat.“
Sie lachte: „Dein Vater hat dich aus deinem Kokon schlüpfen lassen. Du musst noch viel lernen, über die weltwirtschaftlichen Verflechtungen und unseren politischen Einfluss, aber bei deinem Potential bist du bereits in ein, zwei Jahren soweit.“
„Und dann?“
„Dann lenkst du die Geschicke der Welt. Und wir gehen den Bund ein. Du und ich.“
Daniel wollte fragen, welchen Bund Fiona meinte, aber ihre Hand fand seine; gerade, als sein Vater die Kanzel betrat.

Er trug eine mit Kordeln und Abzeichen dekorierte Uniform wie ein General aus einem Film oder Videospiel. Schlagartig wurde es still im Plenum.
„Was unseren Stammbaum wie ein roter Faden durchzieht“, begann er, „ist das Streben nach Macht. Anders als andere Geschlechter sind wir so erfolgreich, weil wir es im Stillen tun oder uns anderer bedienen. Sie zu unseren Marionetten machen.“

Das konnte nicht sein. Nicht sein Vater. Wie hätte er das Daniels ganzes Leben über verbergen können? Daniel stocherte in seinen Erinnerungen. Irgendwo musste sein Vater einen Fehler gemacht, sich verraten haben.
„Ich kann mir vorstellen, dass das alles viel für dich ist“, sagte Fiona leise.
„Nein, ich will das nicht. Ich will das alles hier nicht.“
Sie legte ihren Arm auf seinen: „Du hast keine Wahl, du bist, was du bist, du bist einer von uns und du musst deine Rolle erfüllen.“
„Einen Scheiß muss ich!“, schrie er und sprang auf. Drängte auf den Gang, stieß mit einem Bediensteten zusammen. Als Daniel sich wieder aufrappelte, sah er die gerahmten Fotografien an der Wand: Sein Vater mit Honecker in Ostberlin. Sein Vater mit Gorbatschow in der Taiga, sein Vater mit Jacky Onassis, sein Vater mit George Bush, sein Vater mit Osama bin Laden, sein Vater mit Steve Jobs. Sein Vater in Fukushima.
„Er ist ... ein Monster“, entfuhr es Daniel.
„Manchmal muss man ein Monster sein, um die Welt vor den anderen Monstern zu schützen. Komm, ruf sie an, dann wird es dir besser gehen“, sagte Fiona und reichte ihm ein Mobiltelefon.
Mit zittrigen Fingern tippte er die Nummer ein.

„Mutti? Ich bin bei Vater auf einem riesigen Anwesen.“
Daniel hörte ihr Aufatmen, dann ihre Worte, die er nicht verstand, die wie ein verschlüsselter Code klangen. Dennoch erinnerte er sich, was zu tun war. Er stieß Fiona zur Seite, griff nach der Waffe im Halfter des Sicherheitsmannes neben ihm und stürmte zurück in die Loge.

Version 2

Letzte Aktualisierung: 26.09.2016 - 07.05 Uhr
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