Diese Seite jetzt drucken!

Familienbande | September 2016

Trotz alledem
von Sabine Esser

„Was ist denn jetzt los? Tageslicht?“, murrt die schwere Bratenplatte mit dem breiten Goldrand, geweckt aus jahrzehntelangem Schlaf tief hinten unten im großen Buffet. „Gibt’s Gäste?“
Die benachbarten Gemüseschalen und endlich auch die vielen großen und kleinen, flachen und tiefen Teller aus der oberen Etage werden wach und schwatzen aufgeregt.
„Ihr Teller seid mal ganz ruhig“, schimpfen zwei Saucièren vom unteren Bord.
„Glaub‘ ich nicht“, brummt die große Suppenterrine und rückt ihren Deckel zurecht. „Die werden vermutlich mal wieder umziehen.“

Nach und nach finden alle Platz auf einem langen Tisch, die aus der unteren und die aus der oberen Etage.
„Gäste“, schwärmt eine Suppentasse. „Ach, das wäre schön. Wofür sonst könnten die uns alle brauchen?“
„Erst mal sollten sie dich gründlich abwaschen. Da sind noch Reste der letzten Mockturtle mit Sherry zu sehen, pfui Teufel“, moniert die Bratenplatte.
„Du bist ja nur so sauber, weil du seit Ewigkeiten nicht erwünscht warst“, zischt die Suppentasse.
Abrupt hört die Zankerei auf.

Auf einem benachbarten, langen Tisch werden Tee-, Kaffee- und Mokkagedecke zusammengestellt. Daneben ein weiterer Tisch mit Gläsern und Kristall.
„Die Angeber auch! Das wird wieder ein Umzug, hab‘ ich ja gleich gesagt“, murrt die Suppenterrine grimmig.
„Selbst das gute Kristall und die feinen Gläser stellen sie raus“, gibt ihr die Bratenplatte Recht und fragt über die Tische hinweg:
„Hat irgendjemand von euch eigentlich mal diese Leute gesehen?“
Ratlosigkeit beim Porzellan, allzu lange Zeit haben sie im Buffet verbracht.

Die zarten, geschliffenen Gläser wissen mehr:
„Vor einigen Wochen waren wir noch mal draußen. Das war die Trauerfeier für die alte Dame, die beiden Töchter hatten eingeladen. Die kennen wir, aber nicht den großen Mann“, klirren sie fein.
„Die Hildegard hat der letzte Sohn, Erwin, – die anderen beiden sind ja in Russland gefallen - kurz nach dem letzten Krieg geheiratet.“
„Aus Königsberg war sie und hatte gar nichts“, schrillt ein zierliches Sherryglas vorlaut.
„Aber Manieren – Im Gegensatz zu dir“, mault die Bratenplatte halblaut.

„Ich erinnere mich sehr gut“, summt die große Suppenterrine. „Das war eine lustige Hochzeitsfeier. Braten gab’s nicht, nur irgendein Ragoût von Hundefutter, wenn du mich fragst. Aber lustig war es trotzdem.“
„Ersatzeierstich! Die Suppe nicht mal vom Knochen gekocht. Nur lausiges Gemüse! Und Maismehlklößchen – Viehfutter“, erinnern sich einige Suppentassen.

„Was hattest du da eigentlich zu suchen, Alte?“, wundert sich die Bratenplatte.
„Die haben die KPM-Punschterrine mit der Zitrone oben – ist die auch hier? Hallo? – Die haben sie jedenfalls nicht gefunden und da musste ich herhalten. Oh, mein Deckel“, kichert sie voller Vergnügen.
„Die verträgt ja gar nichts“, zwitschern hell die geschliffenen Sektflöten. „Gebechert wurde damals jedenfalls ordentlich. Trotz Nachkriegszeit.“

„Das ist so roh von euch“, jammert eine kleine Meißner Mokkatasse. „Meine ganze Familie wurde gegen das bisschen Alkohol und Fleisch eingetauscht. Die Punschterrine mitsamt Bechern und Silberkelle hat ein Ami mitgenommen. Und wofür? Für Zigaretten! Mich haben sie nur verschont, weil ich geklebt war. Seitdem stehe ich ganz allein hinten unten im Schrank. Außerdem wollten euch die Amis nicht, weil ihr nur Hutschenreuther seid! Nicht mal 'ne Schachtel Zigaretten wart ihr damals wert! Und jetzt spielt ihr euch auf und zankt trotzdem.“

Für einen sehr kurzen Moment herrscht betroffene Stille.
„Also ich …“, setzt die große Suppenterrine an.
„Also du – du warst damals sternhagelvoll, meine Liebe. Und seitdem wackelst du ständig an deinem Deckel“, unterbricht sie die Bratenplatte.

„Stellt euch mal vor, die Wuchtbrumme hätte die Mengen Whisky aushalten müssen, die der alte FW, der Vater vom Erwin, vor fünfundvierzig jeden Abend in sich reingekippt hat!“, hüstelt hämisch ein kristallenes, mit Jagdmotiven geschliffenes Whiskyglas.
Seine elf Brüder summen vor Vergnügen: „Das waren noch Zeiten. Jeden Abend waren wir draußen.“
Ihre zwölf Cousins schwenken erinnerungsselig ihre Cognac-Bäuche: „Damals wurde noch richtig gezecht.“
„Ihr hattet da überhaupt nichts zu suchen! Eigentlich wären wir dran gewesen. Klarer Korn ist deutsch, kein welscher Branntwein oder irischer oder schottischer Verschnitt!“ empören sich die dazugehörigen Schnapsgläser.
„Qualität setzt sich eben durch, da hilft auch keine Politik“, höhnt das Whiskyglas und die Cognac-Schwenker grinsen: „Nachschub gab’s immer. Nur nicht fragen, wie und woher.“
„Stimmt“, kichern die Sektflöten erinnerungsselig. „Vor allem aus Frankreich.“

„Nun ja, meine Lieben. Wir haben das große Glück gehabt, dass kein Plebs in diesem Haushalt verkehrte“, unterbricht eine große, geschliffene Bleikristallkaraffe mit silbernem Deckel und Griff nüchtern den beginnenden Streit. „Es waren die gleichen Leute, nur andere Uniformen.“
Das Whiskyglas hält überrascht inne: „Dass ich Sie noch mal sehe … Das letzte Mal im Dreikaiserjahr bei der Hochzeit vom Friedrich Wilhelm, dem Vater des jüngeren FW, und der Auguste, nicht wahr? Und Sie haben alles gut überstanden?“
„Ich kann nicht klagen. Übrigens haben wir uns danach noch häufiger gesehen. Sogar bei den Tauffeiern der beiden Mädchen nach dem letzten Krieg. Ich vermute, Sie erinnern sich nicht?“
Sehr kühl setzt sie nach: „Berufsbedingt vermutlich.“
Das Whiskyglas grummelt halblaut: „Olle Zicke, kein Wunder, wenn man immer nur Wasser bekommt.“

„Sie haben ein fantastisches Gedächtnis“, wagt bewundernd eine rotschimmernde Vase vom Nachbartisch einzuwerfen.
„Gnädigste, Alkohol desinfiziert von innen, das hält jung“, liebäugelt das Whiskyglas, die Kristallkaraffe ignorierend. „Murano, wenn ich nicht irre?“
„Sie wissen wirklich alles. Die jungen Leute haben mich in der Tat von ihrer ersten Urlaubsreise mitgebracht“, schwärmt die Vase. „Sogar in einem VW Käfer.“
„Venedig, das sieht man. So eine schöne schlanke Form, einfach bezaubernd. Und die herrlichen Farben. Überfang, ich weiß. Selten so schön wie bei Ihnen.“

„Der ändert sich nie“, kratzt die Kristallkaraffe beleidigt mit ihrem schillernd geschliffenen Stöpsel.
Die Bratenplatte greift beschwichtigend ein: „Aber jeder von uns weiß doch, wer Sie sind. Ohne Sie oder uns waren doch gar keine Feste denkbar. Lassen Sie den Gläsern doch ihre kleinen Eigenheiten. Immerhin haben wir viel zusammen erlebt. Und du“, herrscht sie die Suppenterrine an „setz‘ dir endlich den Deckel richtig auf!“

Der große, fremde Mann lobt lächelnd zwei ältere Damen: „Das haben Sie sehr schön vorbereitet. Sind Sie bereit? Dann eröffnen Sie jetzt den Hausflohmarkt.“

„Was ist ein Flohmarkt?“ klappern Gläser und Porzellan unisono.
„Da verramscht man alte Kleidung, in der Flöhe sind. Kenne ich noch von 1917 aus Paris. Da hat der alte Herr das kleine Tête-à-Tête von Sèvres mitgebracht. Das wurde auch gegen Zigaretten getauscht.“

„Uns trennen? Wir sind doch eine Familie! Wir gehören zusammen“, klirrt und scheppert es auf den drei Tischen.
„Familie? Macht euch doch nichts vor. Wir haben nur viele gute und schlimme Jahre zusammengelebt. Eine Familie sind wir nicht“, brummt die Bratenplatte.
„Und mit den Sammeltassen will ich schon gar nichts zu tun haben“, begehrt die Suppenterrine auf.
„Nu halt‘ mal deinen Rand. Wir sind Glas, wir sind Kristall, wir sind Porzellan, stammen aus unterschiedlichen Zeiten. Wir sind viel zu verschieden, um eine Familie zu sein. Wir haben nur zu einer gehört.“

„Und wir sind doch eine Familie“, protestiert die kleine kaputte Meißner Tasse zaghaft. „Es ist doch egal, wann und wie wir hier in den Schränken gelandet sind. Was wir zusammen erlebt haben, das zählt.“

„Fünf Euro für die Suppenterrine“, bietet jemand.
„Eine Unverschämtheit“, empören sich Porzellan, Gläser und Vasen gemeinsam. Sie empören sich so sehr, dass die wackeligen Tapetentische leicht erzittern.

„Die Kleine hat Recht! Wir sind eine Familie, auch wenn wir uns nicht mögen! Wir zählen bis Drei und dann …“, entscheidet die Bratenplatte.

Der smarte Haushaltsauflöser hat so etwas noch nie erlebt: Eine Kakophonie von Scheppern, Klirren, Bersten und Zerspringen.

„Ausgerechnet neben dir muss ich liegen“, murrt eine Scherbe der Suppenterrine zum Rest einer goldrosa Sammeltasse. „Na ja, hübsch bist du ja. Rosenthal?“
„Gnädigste, dass wir so eng zusammenkommen, hätte ich nie für möglich gehalten“, flirtet der Rest des Whiskyglases mit der Hälfte der Muranovase.

„Wir sind eben doch eine Familie“, haucht ein winziger Scherben der kleinen Meißner Tasse.
„Ich bin bei dir, keine Angst“, brummt leise ein kleines Stück der Bratenplatte.

Letzte Aktualisierung: 23.09.2016 - 07.20 Uhr
Dieser Text enthält 8944 Zeichen.


www.schreib-lust.de