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Superhelden | Oktober 2016
Im Auge der fremden Seherin
von Sylvia Seelert

Benlok war nicht groß und nicht klein. Weder dick noch dünn. Seine Haarfarbe changierte je nach Lichteinfall zwischen hellblond und dunkelbraun. Er war irgendwie alles und nichts. Das hing schlicht davon ab, was sein Gegenüber auf ihn projizierte. Das, was im Unterbewussten schlummerte, fand in Benlok seinen Ausdruck und wurde vielfach verstärkt. Diese Gabe erwachte zum Leben, als er das Reich der Pubertät betrat. Jenes Land, in dem alles nur noch wenig Sinn machte. Und so fokussierte sich Benlok auf sein Gegenüber, um Antworten zu erhalten auf die Wirrnisse in ihm selbst. Er fand viele Gesichter. Traurige, Glückliche, Wütende, Rasende, Zweifelnde, Mitfühlende, Gleichgültige – die ganze Bandbreite an Gefühlen, die darüber entschieden, ob ein Mensch schön oder hässlich erscheint. Nur sein Gesicht kannte Benlok nicht. Egal, in welchen Spiegel er auch schaute – menschliche wie künstliche Reflexionsfläche – er fand sich nicht. Bis er auf Lisa traf.

Der Nebel an diesem Herbstmorgen war bis in die Straßen der Stadt gedrungen. Er legte eine Schicht von Unschärfe auf die Konturen, die erst klarer wurden, wenn man ganz nahe herantrat. Dann schälte sich der Baum, die Hecke oder das Auto aus der grauen Suppe der Ungewissheit. Wäre nicht das Klack-Klack eines Stockes gewesen, der mit seiner festen Spitze unbeirrt durch den Nebel schritt, hätte Benlok geglaubt, der Nebel hätte auch den Ton von dieser Welt verschlungen. Er selbst fühlte sich ganz grau und aufgelöst, als waberte er wie Dunst über den Weg. So glitt er in Richtung des Geräusches, das ihm Orientierung gab. Nach und nach formte sich vor ihm die Silhouette eines Menschen aus der Nebelsuppe heraus, die mit einem langen Stock den Weg vor sich abklopfte. Benlok war sogleich fasziniert. Die Welt zu ertasten, daran hatte er bisher nicht gedacht. In seiner Spiegelwelt war alles auf das Sehen ausgerichtet. Je näher er kam, desto klarer wurde für ihn, dass es eine Frau war. Selbst unter dem Wollmantel konnte er ihre zierlichen und doch sehr weiblichen Formen wahrnehmen.
Ohne zu zögern ging sie vorwärts, als ob der Stock für sie sehen würde. Benlok hingegen sah fast nichts und musste fluchend plötzlich auftauchenden Menschen aus dem Weg gehen. Einmal kollidierte er sogar mit einer Mülltonne, die ein Anwohner für die Abholung am nächsten Tag bereits aus der Einfahrt auf den Weg rollte. Da hätte er sie beinahe verloren, denn das Klack-Klack ihres Stockes zögerte nicht auf seinem Weg und wurde immer leiser. Er hastete – soweit er sich in diesem dichten Nebel traute – vorwärts. Verzweifelte fast, als er das Geräusch des Stockes nicht mehr hörte, eilte trotzdem weiter, denn es war auf einmal so unglaublich wichtig für ihn, diesen Faden der Begegnung nicht zu verlieren. Er wollte das Muster sehen.

Fast wäre er in sie hineingestolpert, als ihr Schatten vor ihm auftauchte. Sie war stehengeblieben. Ein Paar Springerstiefel hatte sich vor ihrem Stock aufgebaut und hinderte ihn daran, den Weg abzutasten. Ein zweites Paar Springerstiefel stand daneben. In ihnen steckten gedrungene Männer, Mitte Zwanzig, glatzköpfig und mit Bomberjacken bekleidet, die Gesichter zu hämischen Fratzen verzogen.
„Na Fotze, willste mal richtig was zum Grabschen kriegen? Mein Stock ist besser als deiner.“
Lachend öffnete er den Reißverschluss seiner Hose. Mit einem Ruck hob sie den Stock an und rammte ihn zwischen seine Beine. Er jaulte wütend auf.
„Los, nimm ihr das verdammte Ding ab“, brüllte er seinen Kumpel an.

Benlok stellte sich zwischen sie und der Frau.
„Mutter“, sagte er mit fast weiblicher Stimme und blickte dabei den Wortführer an. Im Nebel war es ungemein schwieriger, die Menschen zu spiegeln. Die feuchte, übersättigte Luft wirkte hemmend. Doch diese beiden hatten keine Dichtigkeit in ihrem Geist, waren dem Nebel sehr ähnlich, der sie umgab. Grau in ihrem Denken, ohne wirkliche Form und Richtung, ungeboren. Als die Transformation abgeschlossen war, sahen sie nichts außer dem Nebel und wimmerten in ihrer eigenen Verlorenheit. Denn hier war nichts von Wert, alles war aufgelöst, verschwand in Nichtigkeit. Wie sollten sie hier leben, wenn es nichts gab, an dem sie festhalten konnten?
„Mama“, winselte der Rädelsführer und klammerte sich an seinen Kameraden.

„Komm“, flüsterte Benlok der Frau zu und stupste sie sanft an den jammervollen Gestalten vorbei. Nach einem kurzen Moment des Zögerns nickte die Frau und setzte ihren Weg fort. Benlok blieb schweigend an ihrer Seite. Sie duldete seine Anwesenheit. Mehr nicht. Doch das genügte Benlok. Es war irgendwie wohltuend. Zu seiner Überraschung gab es nichts, was er spiegeln konnte. Es war sein Schweigen und ihr Schweigen. Ganz unabhängig voneinander. Benlok kostete die Stille zwischen ihnen gänzlich aus, befühlte sie mit seinen Gedanken, nippte an ihrem Geschmack.

„Kaffee?“, fragte sie in seine Richtung. Sie war am Bistro „Am Eck“ stehen geblieben. Hinter der beleuchteten Fensterfront konnte er einige wenige Menschen ausmachen, die an diesem frühen Vormittag dort frühstückten.
„Klar“, antwortete er und hielt ihr die Tür auf.
„Guten Morgen, Lisa“, rief die Bedienung hinter der Theke ihr sogleich zu. „Dein Platz ist frei.“
Zielstrebig steuerte Lisa die rechte hintere Ecke an, lehnte ihren Stock gegen die Wand, zog die Jacke aus, setzte sich hin und winkte ihm, es ihr gleich zu tun.

Er kannte nun ihren Namen. Ihren richtigen Namen. Sonst spiegelten ihm die Menschen andere Bezeichnungen. Er verspürte eine nie zuvor gekannte Euphorie. Die Entdeckung einer neuen Welt. Er wollte mehr wissen, wollte Lisa ganz und gar spiegeln und sich so mit ihr vereinen. Ein wenig befangen schlüpfte er auf den Stuhl ihr gegenüber.
„Das Übliche?“, fragte die Bedienung und stand mit ihrem digitalen Bestellgerät neben Lisa. Diese nickte und die Bedienung tippte fleißig in ihr Gerät ein.
„Und du?“, fragte sie jetzt Benlok.
„Einen großen Becher Kaffee!“
Benlok bestellte immer, was sein Gegenüber wollte. Doch diesmal war es anders. Er wusste es nicht, hatte sich einfach an das erste Wort erinnert, das sie zu ihm gesprochen hatte. Und das war eben Kaffee gewesen.

„Danke“, sage Lisa. Ihre Hand verformte sich dabei zur Faust. „Ich hätte das auch alleine geschafft.“
Benlok war verwirrt. Dank und Ablehnung zugleich? Er wusste nichts zu erwidern.
„Darf ich dich abtasten, um zu sehen, wer du bist?“
Erst da wurde Benlok bewusst, dass sie blind war. Der Stock. Warum der Nebel sie nicht aufhalten konnte. Wieso hatte er das nicht bemerkt? Er kam sich mit einem Mal sehr dumm vor. Ob er die Menschen überhaupt noch wirklich wahrnehmen konnte?
Der Gedanke, dass Lisa ihn berühren würde, verunsicherte Benlok und ließ zugleich wohlige Schauer über seine Haut laufen. Nicht sehen. Berühren.
„Ja, klar“, antwortete er und wollte selbstsicherer wirken, als er sich tatsächlich fühlte.
Ihre Finger waren ganz zart und kühl. Vorsichtig ertastete sie jede Falte, jedes Grübchen in seinem Gesicht. Streichelte über seinen Kopf, prüfte die Struktur seiner Haare, verharrte kurz an den Ohren. Legte dann ihre Hände über seine Augen. Sein Herz schlug dabei ganz aufgeregt. So war er noch nie wahrgenommen worden. Welches Bild hatte sie nun von ihm?

„Was siehst du?“, fragte sie ihn und nahm die Hände wieder herunter. Er schaute ihr direkt in die Augen. Ihre Pupillen waren starr und von einem leichten Schleier überzogen. Wie konnte sie wissen, wohin sie schauen musste? Sie lächelte.
„Was – siehst – du?“, fragte sie erneut.
Alles wurde still. Das Murmeln der Gäste, das Zischen der Kaffeemaschine, das Scharren von Füßen – alles verschwand, war nicht mehr existent. Nur Lisa war in seinem Fokus. Er spürte, wie seine Gabe sich in seinem Körper auflud, Energie aus seinen Zellen zog und sich bündelte. Er war bereit, sie in ihrem Innersten zu spiegeln. Doch der Energiestrom zerstob an ihren Augen, fiel in sich zusammen. In ihren Pupillen sah er eine Silhouette. Einen jungen Mann, Anfang Dreißig, der ganz und gar von einer grün-blauen Lichtwolke umgeben war. Kleine, flackernde Sterne blitzten immer wieder in der Lichtwolke auf. Es war ein prächtiges Gewand, was ihn umgab.

„Schön“, flüsterte er. Sie nickte.
„Wer bist du?“, fragte sie ihn.
„Benlok.“
Ihre Augenbrauen zogen sich leicht nach oben. Sie wirkte enttäuscht.
„Wer – bist – du?“, fragte sie nun energischer.
Wieder schaute er in ihre Augen und sah, wie die grün-blaue Lichtwolke verblasste. Dahinter lag Dunkelheit, in der er die Umrisse einer Tür erkannte.

„Dahinter bist du“, wisperte sie. „Ich sehe dich, Benjamin Lok.“
Er trat hindurch. Ein langer Gang mit vielen Türen lag vor ihm. Die Neonröhren summten und flackerten an der Decke. Er rüttelte an den Türklinken, fand keinen Einlass und so lief er weiter bis an das Ende des Ganges. Dort befand sich eine weiße Holztür, der Lack war an vielen Stellen geplatzt, abgeblättert und der Bärchenaufkleber in der Mitte des Türblattes verblasst. Benlok umfasste den Türknauf mit zittriger Hand. Es war die Tür zu seinem alten Kinderzimmer. Er öffnete sie. Langsam ging er zum Bett, strich mit den Fingern über die Bettwäsche mit den blauen und grauen Sternen. Der Holzfußboden hinter ihm knarrte und er drehte sich um. Sein Vater stand hinter ihm, der Lederriemen in seiner Hand baumelte leicht.

Kühle, sanfte Finger drückten seine Hand und er schloss die Tür, sah nur noch sein Abbild in ihren Augen. Fühlte ein Erwachen in sich, ein Fallen von warmem Licht auf den frühen Morgentau. Im Auge der Seherin begann sein Leben ein neues Muster zu weben.

Letzte Aktualisierung: 17.10.2016 - 17.53 Uhr
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