Madrigal für einen Mörder
Madrigal für einen Mörder
Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
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Superhelden | Oktober 2016
Herr Haun
von Sabine Esser

Herr Haun ist das, was man ein ältliches, spilleriges Männchen nennt. Die Nachbarn sagen: „Nach dem kannste die Uhr stellen“ und „nee, natürlich ist der alleinstehend.“ „Freunde? Wie denn auch? Geht ja nie unter die Leute.“ Hobbies können sie sich nicht vorstellen, und Reisen sind nicht bekannt. „Das Haus hat er schon vor Jahren von den Eltern geerbt und nur das Nötigste machen lassen“, sind sie sich einig. Nicht an einen einzigen Sperrmülltermin erinnern sie sich.

Jeden Morgen verlässt er Punkt 06.46 Uhr seine kleine Reihenhaushälfte mit dem akkurat gepflegten Vorgarten in dem immer gleichen dunkelgrauen Trenchcoat und mit dem großen, schwarzen Regenschirm in der linken Hand. Die abgeschabte, schwarze Aktentasche mit der Thermoskanne Kaffee und der Tupperbox für’s Pausenbrot inklusive einem Apfel hält er in der rechten Hand. Nein, ein Hut- oder Mützenträger ist Herr Haun nicht; der dicke Schal und die schwarzen Lederhandschuhe sind im Winter das einzige Zugeständnis. Um 06.58 Uhr erreicht er die Bushaltestelle, immer zwei Minuten bevor der Bus kommt, der ihn zur U-Bahn-Station bringt. Der Busfahrer schaut schon lange nicht mehr auf die täglich hingehaltene Monatskarte. „Seinen“ Sitzplatz hat Herr Haun in den vielen Jahren nur ganz selten besetzt gefunden, die wenigen Male könnte er an einer Hand abzählen.

Um 07.24 Uhr nimmt er die U-Bahn Richtung Innenstadt, er muss noch ein Mal umsteigen, dann kann er um 07.50 Uhr seine ID-Karte vor das Arbeitszeiterfassungsgerät der Bank halten. Kurz vor 08.00 Uhr sitzt er an seinem Schreibtisch, schaltet den Rechner ein und sortiert seine Gerätschaften, alle exakt ausgerichtet. Der Stapel Endlospapier aus dem Nadeldrucker liegt schon bereit.

Er weiß es zu schätzen, dass er nicht mehr im Großraumbüro arbeiten muss. Als er noch in der Kontoführung tätig war, fand er den Lärm unerträglich, vor allem die ständigen Anrufe. „Telefone sind eine der schlimmsten Errungenschaften der Menschheit“, hatte er damals oft gedacht. Insgeheim ist er dem Anschlag auf das World Trade Center dankbar, denn danach wurde die neue Abteilung eingerichtet, und er bekam sein ruhiges Büro; winzig klein zwar und ohne Fenster, aber dort fühlt er sich richtig wohl. Der weiße Aktenschrank und der graue Schreibtisch mit nur einem Eck-Dreieck wirken beruhigend auf ihn.

Eine wichtige und verantwortungsvolle Arbeit hat Herr Haun. Bei seinem dreißigjährigen Dienstjubiläum vor zwei Jahren hat das der Abteilungsleiter „Geldwäscheprävention“ extra betont. Ohne ihn und seine Datenabgleiche wäre jeder Kriminalität weltweit Tür und Tor geöffnet, und natürlich könne die EDV Vieles, aber nur der Mensch sei in der Lage, einen Zahlendreher von einem möglichen Delikt zu unterscheiden. Auf die Fähigkeiten von Herrn Haun könne man sich blind verlassen, lobte er und redete mit allen anderen, aber nicht mit dem Jubilar.

Jeden Tag hinterfragt Herr Haun also akribisch jeden auffälligen Datensatz, meistens handelt es sich um fehlerhaft eingegebene Kontonummern, die die automatische Prüfung ausgeworfen hat. Zahlenreihe um Zahlenreihe scannen seine Augen. Er hat die Berechtigung, bei klaren Fällen Korrekturen vorzunehmen. Sein Zeigefinger hat sich an die OK-Taste der Maus gewöhnt. Nur sehr selten muss der Mittelfinger eingreifen.

Letzte Endziffern 00006082008 – der Mittelfinger zuckt, drückt aber nicht. Zögert immer noch. War da nicht was? Die zerlesene Bild-Zeitung in der Herrentoilette? Verschämt hatte er die Schlagzeilen und auch ein bisschen Text überflogen. Er weiß genau, welcher Kollege seine Arbeitszeit durch häufige und langandauernde „Toilettengänge“ reduziert. Immer riecht es dann dort nach Zigaretten.

00006082008 ist gleich 6. August 2008: Das Geburtsdatum des seit zwei Wochen vermissten kleinen Mädchens. Endlich ein Hinweis. Er, und niemand anders, er wird das Kind retten. Adrenalin pur.

Schnell entschlossen weist er seine außerordentlich hübsche Sekretärin an, den Abteilungsleiter der Soko in sein Büro zu beordern, „und zwar sofort, wenn ich bitten darf.“
In Sekundenschnelle eilt dieser zu ihm. Herr Haun kann seinen Unmut nicht verbergen und trommelt mit den Fingern auf den wertvollen Mahagonischreibtisch: „Es kann Ihnen doch nicht entgangen sein, dass die Folgeziffern Koordinaten bedeuten! Bin ich hier nur von Vollidioten umgeben!?“
Der große, stämmige Kerl in der goldstrotzenden Uniform knickt förmlich ein: „Natürlich, Sie haben vollkommen Recht. Ich werde sofort die nötigen Anweisungen geben. Wünschen Sie auch die Hundestaffel?“
„Was denken Sie denn! Alle verfügbaren Hundertschaften befinden sich ab sofort im Einsatz! Wegtreten!“

Sehr zufrieden lässt sich Herr Haun in den ergonomischen Chef-Sessel fallen: „Die spuren jetzt.“
Dann drückt er auf die Vorzimmertaste der großen Telefonanlage: „Bitte informieren Sie mich sofort, wenn es Neuigkeiten gibt!“
„Aber selbstverständlich“, flötet seine Sekretärin und „kann ich noch etwas für Sie tun?“
„Sie könnten, das will ich aber nicht“, blafft er unfreundlich. „Zumindest jetzt nicht“, setzt er freundlicher nach.

Nur kurze Zeit später blinkt die Taste. Niemand würde es wagen, ihn jetzt mit Lappalien zu behelligen, also nimmt Herr Haun gnädig das Gespräch an. Der atemlose Chef des Sonderkommandos keucht, dass die Hunde das vermisste Mädchen genau dort gefunden haben, wo er es verortet hatte, ein bisschen blass, aber unverletzt. Herr Haun nickt, nichts anderes hatte er erwartet.

Die kurzberockte Sekretärin fragt schüchtern nach, ob er bereit sei, dem Fernsehen ein Interview zu geben.
„Das ist ja nicht meine Art, aber in diesem Fall …“, stimmt er scheinbar widerstrebend zu. Blitzlichter prasseln auf ihn ein, als er in die Knie geht und das Kind in den Arm nimmt. Er vergisst dabei nicht, den Kameras sein Gesicht zuzuwenden. Die gerührten Eltern weinen und küssen ihm die Hände. Blumensträuße werden ihm von begeisterten Schaulustigen zugeworfen.

Der ebenfalls anwesende Bürgermeister betont vor laufenden Kameras wortreich Herrn Hauns Verdienste. In die hingehaltenen Mikrofone der vielen Fernsehsender spricht Herr Haun vorsichtig abwägend, dass der Erfolg seinem Team zu verdanken sei. Er selbst habe nur wenig dazu getan. Seine Bescheidenheit wird ausgiebig gelobt. Man wird ihn für das Bundesverdienstkreuz vorschlagen.

00006082008. Herr Haun atmet tief aus, er drückt auf OK. Datensätze, Datensätze. Der rechte Zeigefinger kommt nicht zur Ruhe.

Feierabend. Punkt 17.00 Uhr loggt er sich aus, nimmt die U-Bahn, dann den Bus und läuft die letzten Minuten zu Fuß nach Hause. Ein Tag wie jeder andere. Er findet nichts daran auszusetzen.

Letzte Aktualisierung: 20.10.2016 - 08.35 Uhr
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