Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
mehr ... ] [ Verlagsprogramm ]
 SIE SIND HIER:   HOME » MITMACH-PROJEKT » SCHREIBAUFGABE » Andreas Schmeling IMPRESSUM
NEWSLETTER
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

Jetzt anmelden! ]

UNSERE TOP-SEITEN
1.) Literatur-News-Ticker
2.) Leselust
3.) Forum
4.) Mitmach-Projekt
5.) Schreib-Lust-News 6.) Ausschreibungen 7.) Wettbewerbs-Tipps
Superhelden | Oktober 2016
Superheld im Supermarkt
von Andreas Schmeling

Er ist weg. Verdammt, eben war er noch da und nun ist er weg!
Alles war optimal vorbereitet und es lief so gut. Und nun das. Ich stehe hier vor dem Eingang zum Supermarkt und kann ihn nicht finden - mein Einkaufszettel ist weg.

Dabei hatte ich alles so perfekt geplant. Die Zeiten der wilden, hingekrickelten Notizen sollten endlich hinter mir liegen. Ich war bereit für das nächste große Ding: Ein geordneter, gut leserlicher Einkaufszettel.

Denn eines ist klar: Gehen Sie nie ohne Einkaufszettel in einen Supermarkt. Nicht nur, dass die eigentlich benötigte Zahnpasta dann zum dritten Mal in dieser Woche im Regal liegen bleibt. Nein, Sie werden zu Hause wieder mit einer neuen Nudelpackung vor dem Vorratsschrank stehen. „Und ich dachte, ich hätte noch gar keine gekauft“ - sind oft die letzten Gedanken, bevor man von seinem eigenen, übergroßen Spaghetti-Vorrat erschlagen wird.

So etwas soll und darf mir nicht mehr passieren! Einkaufen ist schließlich keine Glücksache, sondern bedarf der exakten Planung. Planung, ja, das kann ich!

Es ist Mittwochvormittag, 10 Uhr. Ich sitze auf der Couch und sehe mir diese kaputten Leute auf RTL 2 an. Ein Glück, dass ich nicht so einer bin. Ich bin eher so der Was-ich-anfange-gelingt-mir-Typ. Wobei, warum sitze ich dann am Mittwochvormittag hier und schaue mir RTL2 an?

Egal, ich springe blitzartig von der Couch und setze mich gleich wieder hin. Ich muss ganz strategisch und wohl überlegt vorgehen und zunächst einen Projektplan entwickeln. Daraus leite ich dann den Umsetzungs- und den Finanzplan ab. Jedes Projekt, das weiß ich genau, braucht Meilensteine. Ich recke mich zum Couchtisch vor und ziehe Stift und Zettel unter dem Stapel Bild-Zeitungen hervor. Was gerade im Fernsehen läuft, nehme ich nur noch am Rande wahr. Jetzt steht das Projekt „Effektiver Einkauf“ im Zentrum meiner Aufmerksamkeit.

Ich beginne mit der Planung auf dem Zettel und definiere das Ziel und Zielerreichung:
„Zukünftig soll mein Einkauf im Supermarkt schnell, zielgerichtet und kostengünstig sein. Ich werde nur noch mit einem Einkaufszettel in den Supermarkt gehen und diesen so gestalten, dass der Einkauf extrem effektiv erledigt ist.“

Puh, nach solch anstrengender Vorbereitung habe ich mir eine Pause verdient. Daher lege ich mich gemütlich auf mein Sofa und sehe mir an, wie Richter Hold gerade einen Ladendieb verurteilt. Ich bleibe also am Thema. Fortbildung ist heutzutage ja sooo wichtig!

Nach der Sendung mache ich mich wieder an das Projekt Einkaufszettel-Optimierung. Ziel und Zielerreichung sind definiert, jetzt fehlen noch die Schritte und Meilensteine zur Planung und Umsetzung. Was sind also die wichtigsten Punkte?
Ich beginne mit einer Liste der hauptsächlichen Parameter:
1. Welche Geschäfte besuche ich regelmäßig?
2. Welche Waren kaufe ich?
3. Wo befinden sich die Waren in den Geschäften?
4. Welche Angebote muss ich überprüfen?
5. Wie setze ich das Projekt am besten um?

Die Liste der Geschäfte ist schnell notiert, denn 99% meiner Einkäufe erledige ich bei Aldi und in Kevins Kiosk. Andere Geschäfte, die ich eigentlich nur betrete, falls mal wieder alle Socken schmutzig sind, sind für den Prototyp meines Projektes vernachlässigbar.

Auch die Liste meiner häufig gekauften Lebensmittel ist erstaunlich schnell heruntergeschrieben: Dauerwurst, Streichkäse, Fischkonserven, Nudeln, Ketchup, Bier. Achja und nicht zu vergessen meine Leibspeise Fertig-Kartoffelsalat und Frikadellen!
Auch das reicht für den Projekttest erst einmal aus.

Endlich kann ich nach getaner Arbeit meine Mittagspause machen und verspeise den Kartoffelsalat direkt aus dem Becher. Heute übrigens ohne Frikadellen, denn die habe ich gestern vergessen zu kaufen. Sie ahnen also vielleicht, vorher meine Motivation für das neue Projekt kommt. Solche Fehler gilt es zukünftig zu vermeiden.

Nach dem Kartoffelsalat mit Vera am Mittag mache ich mich wieder an die Arbeit. Natürlich weiß ich, wo bei Aldi meine Lieblingsprodukte stehen. Für mein Projekt „Einkaufszettel-Optimierung“ darf es allerdings gerne etwas exakter sein. Ich suche mir den großen Block, Stift und Zollstock zusammen und mache mich auf den Weg zu Aldi.

Herr Meyer, der Verkaufsstellenleiter bei Aldi, schaut etwas verwirrt als ich auf Knien durch den Laden robbe und die Regalstandorte genau vermesse. Ich brauche mehrere Stunden bis ich die Daten zusammen habe. Ich beginne gerade mit der Reinzeichnung der Aufmaßdaten als mich Herr Meyer vor die Tür setzt: „Feierabend für heute, wir schließen!“.
Das ist doppelt ärgerlich, denn ich bin erstens noch nicht fertig mit meiner Arbeit und außerdem habe ich zweitens meine Einkäufe glatt vergessen.

Die Nacht arbeite ich durch, denn mein Projekt läuft mir terminmäßig aus dem Ruder. Nur unter Einsatz aller meiner Ressourcen kann ich es bis Morgen schaffen. Tatsächlich habe ich im Morgengrauen eine Zeichnung der Regalstandorte angefertigt. Schon vor Ladenöffnung warte ich vor der Tür, denn ich will und muss heute das Unterprojekt „Lebensmittel-Verortung“ abschließen. Ich drängle mich rasch an dem wieder verwirrt blickenden Herrn Meyer vorbei als dieser endlich die Eingangstür öffnet.
Mit meiner Zeichnung in der Hand gehe ich die Gänge und Regalmeter ab. Hier und da notiere ich den genauen Standort meiner Lieblingslebensmittel und träume währenddessen von einer rosigen Zukunft meines Projektes. Denn ein papierener Einkaufszettel kann ja nur der Anfang sein. Das Projekt Einkaufszettel-Optimierung benötigt CAD- und GIS-gestützte Routenplanung zur Wegeoptimierung, einen Online-Abgleich mit aktuellen Sonderangeboten und natürlich eine Smartphone-App. In Gedanken sehe ich mich schon hinter dem riesigen Schreibtisch meines Firmenimperiums sitzen als der Verkaufsstellenleiter Herr Meyer mich am Kragen packt und wortlos vor die Tür setzt. Egal, ich habe schließlich auch in Kevins Kiosk noch ein paar Datenaufnahmen zu erledigen.

Kevin ist von meiner Idee nicht so begeistert, wie ich das eigentlich erwartet hätte. War andererseits auch irgendwie klar, dass sich Kevin neuen Techniken und Innovationen gegenüber wenig aufgeschlossen zeigt. Hinter dem Kiosktresen ist die Sicht auf die wirklich wichtigen Dinge im Leben eben doch sehr eingeschränkt. Ich, als zukünftiger Boss eines gigantischen Imperiums, denke halt in anderen Dimensionen.

Irgendwann habe ich meine Daten zusammen, während sich um mich herum eine kleine Menschentraube gebildet hat. Die anderen Stammgäste von Kevins Kiosk schauen mindestens so unverständig wie Kevin oder Herr Meyer von Aldi.

Müde, aber zufrieden mache ich mich mit meinen Aufzeichnungen auf den Nachhauseweg. Dort hatte ich eigentlich eine weitere Nachtschicht geplant, aber mein Körper verlangt nach seinem Recht. Klar, auch der größte Workoholic muss einmal eine Pause einlegen. Work-Life-Balance ist das Stichwort.

Nach einer kurzen Nacht fällt mir auf, dass ich gestern doch glatt die neue Folge von „Bauer sucht Frau“ verpasst habe. Jetzt verstehe ich auch den Selfmade-Millionär, der neulich in einem Fernseh-Interview sagte, dass er eigentlich gar keine Zeit fürs Fernsehen hat. Tja, wir Big-Business-People sind halt aus einem anderen Schrot und Korn.

Den Tag über bin ich am Couchtisch damit beschäftigt, den optimalen Weg durch die Aldi-Regalwelt zu finden. Mit verschiedenfarbigen Stiften markiere ich Wege-Alternativen auf meinem Plan. Es geht ja schließlich darum, die Dinge nicht einfach so auf dem Einkaufszettel festzuhalten. Nein, die notierte Reihenfolge muss den effektivsten, besten, kürzesten Weg durch den Laden abbilden.

Nach einiger Zeit berechne ich, dass Weg Rot (erst Brot, dann Wurst, dann Bier) genau 3,7 Meter kürzer ist als Weg Grün (Bier, Brot, Wurst). Mit zittrigen Fingern, denn es handelt sich schließlich um die Premiere, notiere ich folgendes auf meinen Einkaufszettel:

Laden durch den Haupteingang betreten
Dem Hauptgang folgen bis 4 Meter hinter Drehkreuz
Brot liegt links im Regal
Bis zum Regalende weitergehen
nach links abbiegen
sofort nach rechts abbiegen
bis zur Ladenwand mit Kühlregalen weitergehen
Standort der Lieblingswurst ist mit schwarzem Edding auf dem Kühlschrank gekennzeichnet (ich glaube, das war der Grund, warum mich Herr Meyer gestern aus dem Laden geworfen hat)
den kürzesten Weg zu den Kassen nehmen
Auf halber Strecke steht das Bier auf der rechten Seite
Laden durch Kassenzone verlassen

Voller Stolz betrachte ich mein Werk. Der Beginn einer steilen Karriere, die Gründung eines allmächtigen Firmenimperiums liegt vor mir. Tausende Menschen werden mich als Retter feiern und verehren. Ich, der Erfinder des effektiven Einkaufzettels.
Vorsichtig und voller Andacht streiche ich das kleine Papier glatt. „Du sollst“, sage ich leise zu dem Zettel, „später einmal einen Ehrenplatz im Firmenmuseum bekommen.“

Ich schaue auf die Uhr und springe hoch. Mein Aldi wird in wenigen Minuten schließen und ich schwelge hier in Tagträumen. So schnell wie noch nie renne ich die Treppen hinunter und hetze zur Aldi-Filiale. Kurz vor der Tür stoppe ich und will den Einkaufszettel aus der Tasche ziehen. Da passiert das Unfassbare: er ist weg! Mein Prototyp des effektiven Einkaufszettels ist verschwunden. Voller Verzweiflung durchsuche ich wieder und wieder meine Taschen, blicke mich suchend um und habe Tränen der Wut und Enttäuschung in den Augen.

Herr Meyer blickt mich wieder einmal verwirrt an, wie ich verzweifelt vor der Aldi-Filiale auf und abgehe. Er schließt die Eingangstür ab und geht kopfschüttelnd nach hinten.

Es fällt mir unendlich schwer, aber ich muss es zugeben: Mein Projekt „Effektiver Einkaufszettel“ ist damit gestorben. Aber als aufstrebender Unternehmer fasse ich schnell wieder Mut und wende mich neuen, brillanten Ideen zu. Wie wäre es mit Frischluft in Dosen? Oder andere Menschen können mir per Youtube beim Schlafen zusehen oder ich stehe professionell Schlange im Supermarkt! Die Ideen liegen auf der Straße, man muss sie nur aufheben. Sie merken schon, Sie werden noch einiges von mir hören!

Letzte Aktualisierung: 18.10.2016 - 10.51 Uhr
Dieser Text enthält 10069 Zeichen.

Druckversion

 LINKTIPPS: Naturwaren Diese Website wird unterstützt von:

www.mswaltrop.de
Copyright © 2006 - 2024 by Schreiblust-Verlag - Alle Rechte vorbehalten.