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Superhelden | Oktober 2016

Jeder hat klein angefangen …
von Barbara Hennermann

Es war früher Freitagabend, als ich den Supermarkt betrat. Viele waren wie ich unterwegs, um rasch noch ihre Einkäufe für´s Wochenende zu erledigen. Auch viele junge Eltern mit ihren Kindern waren darunter.

Schon als ich durch die Glastür in den großen Verkaufsraum trat, schallte mir lautes Kindergebrüll entgegen. Offenbar wurde hier einem Kleinbürger entsetzliches Unrecht angetan …
Die Quelle des Geschreis traf ich ein paar Gänge weiter an. Zwischen Waschmitteln und Hygieneartikeln lag ein knapp dreijähriges Exemplar jener, die einmal unsere Zukunft sichern sollen, strampelnd und kreischend bäuchlings am Boden. Aus dem undefinierbaren Gebrüll kristallisierten sich immerhin zwei deutlich verständliche Worte heraus: „Will haben!“ Ein direkter Adressat dieses Anspruchs war nicht ersichtlich, offenbar vermieden momentan alle Käufer, sich mit Persil oder Toilettenpapier zu versorgen – der Knabe erzeugte ein Vakuum. „ Was für ein Glück“, dachte ich, „dass ich mich damit nicht befassen muss“, und schob meinen Einkaufswagen ebenfalls schleunigst aus dem Gefahrenbereich.
Das Kreischen zog nun seine Bahnen wie eine Schleife durch den Markt. Bei den Gemüsekonserven traf es auf ein zuständiges Ohr. „Mama, will haaaben!“ Eine junge, weibliche Stimme entgegnete ruhig und bestimmt: „Nein, wir haben noch Schokolade zu Hause.“ Ich zollte der jungen Mutter insgeheim Respekt. Sie machte es richtig! Nur, wenn sie jetzt unbeeindruckt blieb, würde sie sich ähnliche Ausbrüche in Zukunft ersparen können.
Das Kreischen steigerte sich zur Sirene, erfüllte auf- und abwallend – je nach augenblicklichem Standort – den gesamten Verkaufsbereich. Plötzlich verstummte es schlagartig. Hoppla, hatte der Knabe die Unsinnigkeit seines Tuns etwa erkannt? Respekt, Mama!

Im Kassenbereich traf ich die beiden wieder. Der Hosenmatz stand auf seinen zwei Beinen und grinste, die Mutter hielt ein Eis in der Hand. Der Sieg war sein! Befreit konnte er sich anderen Tätigkeiten zuwenden, was er auch flugs tat. Er begann, die Zeitschriften aus dem Regal zu räumen. „Ares, lass das bitte“, sprach die mütterliche Stimme mit sanftem Tonfall.

Ares?
Hier stand sie also, die Fleisch gewordene griechische Mythologie?
Ares, der Gott des schrecklichen Krieges, des Blutbades und der Massaker?
Ich glaubte, mich verhört zu haben.
Ares wohl auch. Er räumte munter weiter aus.
„ Ares, ich kann das Eis auch wieder zurücklegen!“
Oha, das klang nach Drohung. Der erhobene Zeigefinger war deutlich herauszuhören!

Ares ließ tatsächlich von den Zeitschriften ab. Allerdings nur, um sich jetzt zwischen den Zahlungswilligen am Laufband an der Kasse durchzuquetschen. Irritiert wichen die Einkäufer ein wenig zurück, um ihm Platz zu machen. Der muntere Knabe inspizierte nun mit den Händen, was andere so in ihrem Einkaufwagen gehabt und auf´s Band gelegt hatten.

„ Ares, lass das bitte! Ich kann das Eis auch wieder zurücklegen.“
Die mütterliche Stimme klang jetzt etwas schrill.
Aber offenbar wenig beeindruckend ...

Ares zwängte sich freudig in den Kassenstand, um der Verkäuferin bei ihrer Arbeit behilflich zu sein. Dies stieß nicht auf Gegenliebe, denn der Ansturm an der Kasse ließ sie für kindlichen Wissensdrang nicht wirklich offen sein. Ziemlich verärgert, wie auch die versammelte Kundschaft an der Kasse, richtete sie ihren Blick auf die Erzeugerin des kriegerischen Angreifers.
„ Ares, komm jetzt bitte sofort her! Ich habe dein Eis noch nicht bezahlt.“
Oha, jetzt lag Drohung aber bleischwer in der Luft!
Sie tropfte an Ares ab.
Er hatte diesbezüglich wohl schon reichlich Erfahrungen gesammelt ...
Voller Vorfreude wartete er hinter der Kasse auf seine Belohnung, die ihm auch bald darauf (mit einem um Nachsicht heischenden Seufzer in Richtung der Umstehenden) zuteil wurde.

Am Parkplatz traf ich die beiden wieder. Ares sprang zwischen den parkenden Autos herum und lutschte sein Eis. Seine Mutter balancierte ihre Einkäufe auf den Armen zu ihrem Auto, da blieb keine freie Hand für ihren kleinen Kriegsgott übrig ...
Zufällig hatte sie neben mir geparkt. Ich sah, wie Ares am Beifahrersitz Platz nahm – ohne Kindersitz und ohne Gurt, gestikulierend und eisverschmiert. Dann fuhren sie davon.

Nachdenklich stieg ich in mein Auto.
Hatte jene junge Mutter, die ihrem Sohn den Namen des Kriegsgottes gab, keine Kraft mehr, sich seiner Verwirklichung weiter zu stellen? Überließ sie es nun der Nemesis, ob der kleine Krieger in absehbarer Zeit ein unbezähmbarer und unlenkbarer Kriegsheld werden würde, der sich mit einem Eis nicht mehr zufrieden stellen ließ? Wie oft würde Fortuna sich noch so herausfordern lassen, dass sie schützend die Hand über Ares hielt, der gerade lernte, dass sich alles nach ihm richtete? Der keine Regeln kannte und darum auch keine Gefahren erkennen konnte?

Und die Moral von der Geschicht´:
Ein Held zu sein ist subjektiv!
Dem einen taugt´s, dem andren nicht.
Wie halt das Leben so verlief ...


hb 10/2016 V2

Letzte Aktualisierung: 15.10.2016 - 09.40 Uhr
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