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Eine klitzekleine Kleinigkeit | November 2016

Rundungsdifferenzen
von Sabine Esser

Alles fing damit an, dass Tom im Matheunterricht auf- und abrunden musste. Da hatte er plötzlich diese Idee, und sie ließ ihn nicht mehr los. Nur mit Computer-Ecki konnte er darüber reden. Mit niemandem sonst. Schon gar nicht online. Es brauchte viel Überredungskunst, bis Ecki sich in das Freizeitbad bemühte.

„Alter, was kann so wichtig sein“, begrüßte er den zwei Jahre Jüngeren, der ihm die schon länger wartende Cola hinschob und gleich mit der Tür ins Haus fiel: „Hast du dir schon mal Gedanken über Kontoauszüge gemacht?“
Ecki verschluckte sich, so blöd war die Frage.
Tom wartete geduldig ab, starrte ihn hochkonzentriert durch die dicken Brillengläser an: „Ich bin da auf 'was gestoßen. Hochinteressant. Wieviele Nachkommastellen stehen auf Kontoauszügen?“
„Du bist echt voll daneben. Zwei natürlich.“
Tom grinste zufrieden: „Eben. Und jetzt sag‘ mir doch mal bitte, wieviel 3,75 Prozent von z.B. 4.515,00 Euro sind.“
Ecki tippte die Zahlen und die Formel „plus Betrag durch Hundert mal Prozent“ in sein Smartphone: „169,3125 Euro. Ja und?“
„Ist nur scheinbar einfach. Rundest du bei einer Fünf auf oder ab?“
„Auf natürlich.“
„Und was steht auf dem Kontoauszug? 169,31 Euro ja?“
Sehr langsam begann Ecki zu begreifen und strich sich die langen, dünnen Haare aus der Stirn.
„Echt geil“, stöhnte er und hauchte, schon rechnend: „Wo bleiben die weniger als ein Cent?“
„Genau“, fixierte ihn Tom. „Ich sagte ja, hochinteressant.“
„Moment mal: Aufrunden ja, aber was ist mit den Abrundungen? Hält sich das nicht die Waage?“
„Bedingungsformel. Grundsätzlich aufrunden.“
Eckis Gehirn arbeitete mit Hochdruck:„Was schätzt du, wie viele solcher Datensätze laufen bei einer ganz normalen Bank täglich durch? Tausend? Das wären dann bei den Zahlen 2,50 Euro – nicht gerade viel, im Monat weniger als 100 Euro.“
Tom konterte: „Und genau deshalb merken die das nicht.“

Beide nuckelten an ihrer mittlerweile schalen Cola und sahen sich von Zeit zu Zeit rechnend in die Augen. Selten ganze Sätze.
„Keine Publikation mit vielen Nachkommastellen.“
„Was nicht existiert, kann nicht vermisst werden.“
„Ist nicht strafbar.“
Unisono spuckten sie ihr Fazit heraus: „Welche Bank?“
Tom war schneller: „Hauptsache deutsch oder hast du Bock auf Englisch oder Französisch?“

Am nächsten Tag trafen sie sich wieder, diesmal bei den viel begafften Seehunden im Zoo. Es ging nicht mehr um das Ob, nur noch um das Wie. Nicht die geringste Spur durften sie hinterlassen. Tom war zu dieser Zeit schon ziemlich besorgt, aber Ecki beruhigte ihn:
„Die haben wahrscheinlich alle EDV von Anno Knax! Die sind einfach zu groß. Die können nicht mal irgendwas schnell ändern.“
Das überzeugte Tom, in der Schule war es ja nicht anders. Nur veralteter Kram.

Die Hardwareprobleme waren ratzfatz gelöst: Beibehaltung der bisherigen Geräte und ID’s und so tun, als sei gar nichts, d.h. regelmäßig zu den gewohnten Zeiten die üblichen Seiten aufrufen.
„Ich schreib‘ uns 'ne verdeckte Datei, die spielt für uns“, erklärte Ecki.
Die gewohnten Smartphones nur noch für Normales. Neue, geheime Handies mit Prepaid, und zwar so alt wie möglich. Je weniger der Chip kann, desto weniger kann er kontrolliert werden. Flohmarkt, da fragt niemand woher und wohin. Sogar ein gebrauchtes Tablet ergatterten sie.

„Und wir holen uns 'ne alte Festplatte vom Elektromüll, der nach Afrika soll. Die Leute löschen doch nie ihre Daten richtig“, schlug Tom vor.
Ecki war begeistert: „Vielleicht können wir 'ne ID klauen, um ein Konto einzurichten! Bring‘ mit, was du kriegen kannst.“

Hochzufrieden lasen sie in Opas Schrebergarten – doch, auch dort gibt es Strom - eine Unmenge an Daten aus den Müll-Festplatten heraus und lachten sich kringelig über die Naivität der Leute; sogar äußerst private, pikante Bilder fanden sie. Jedenfalls ließen sich problemlos Avatare schaffen. Unter falschen Namen wurden sie die Enkel einer Omi, die jeden Sparpfennig ihren Lieblingen zukommen ließ. Die alte Dame eröffnete freundlicherweise sogar ein Auslandskonto für ihre Herzblättchen mit der Betreffzeile „Zukunftssicherung“. Einige Zeit stritten sich Ecki und Tom über ein „s“ oder zwei „s“, bis sie entschieden, dass die Oma Probleme mit der Rechtschreibung hat.

Das eigentliche Problem war erheblich schwieriger zu lösen. Tagelang musste Ecki in der Finanzbuchhaltung einer kleinen Bankfiliale herumstochern, bis er endlich herausbekam, dass alle dortigen Daten von einem bankeigenem Rechenzentrum generiert wurden. Von Buchhaltung hatten weder er noch Tom irgendeine Ahnung.
„Wieso lernen wir das eigentlich nicht in Mathe? Is‘ doch viel nützlicher als irgendwelche Hyperbeln“, empörte sich Tom.

Dann der Durchbruch.
„Geil. Die Bank war ja relativ easy, aber das RZ? Da sind echte Profis“, freute sich Ecki. Endlich richtige Gegner!
„Lass‘ uns die Sache vergessen, war ja nur so ’ne Idee“, wollte Tom tatsächlich die Hackerei abbiegen.
„Never ever. Ich komm‘ überall rein, weißt du doch, brauch‘ nur noch 'n bisschen Software“, klapperte Ecki auf der Tastatur.

Zwei Tage später war er im Rechenzentrum.
„Da! Da ist sie! Das ist die Auf- und Abrundungsformel!“ So schrill hatte Tom Eckis Stimme noch nie gehört.
„Hab‘ ich dich! Du wirst nie wieder abrunden“, brüllte Ecki und tötete einen Teil der hinterlegten Formel.
„Und jetzt leg‘ ich uns unter „Auszubuchende Posten“ ein Unterkonto eines Unterkontos an. So kleine Beträge werden garantiert nicht kontrolliert.“ Ganz sicher war er sich nicht, aber dann:
„Hat er gefressen! Hat er tatsächlich akzeptiert! Wow, bin ich gut! Give me five! Jetzt noch die automatische Weiterleitung. Keine Ansammlung größerer Beträge. Wenn das Konto zu den Prüfzeiten regelmäßig dauerhaft auf fast Null steht, merkt kein Schwein was! Aktivieren geht aber erst nach dem nächsten Upload bei denen.“ Ecki war zum ersten Mal richtig nassgeschwitzt, was Tom sehr beunruhigte.

So hatte alles angefangen. Genau so.

„Bist du sicher, dass wir wirklich an alles gedacht haben?“ Tom’s Brille beschlägt, so aufgeregt ist er.
„Hundertpro. Start ja oder nein? War ja deine Idee“, antwortet Ecki. Seine langen, dünnen Haare kleben schweißnass an Kopf und Nacken.
„Wenn du absolut sicher bist, dann ok“, antwortet Tom tapfer; er will nicht kneifen.
Ecki drückt entschlossen auf „Enter“: „Die machen jetzt ihren Upload und wir sind dabei! Mann, wir sind echt dabei jetzt! Mitten drin!“
Sie keuchen, regelmäßiges Atmen ist nicht mehr möglich. Wird die EDV der Bank ihren winzigen Eingriff bemerken?

Der Upload ist beendet. Gebannt starren Tom und Ecki auf den Bildschirm: Rasant sammeln sich auf dem Zwischenkonto Cents, mutieren zu ganzen Eurobeträgen, in kurzer Zeit schon dreistellig. Ebenso schnell werden die Summen „kleiner EUR 99,00 größer EUR 25,00“ in Ausland transferiert. Oma sei Dank!

Kaum sind die ersten 100 Euro erzielt, tanzen die beiden mit Indianergeheul um das Tablet vom Flohmarkt. Sie können sich gar nicht mehr einkriegen. Nach einer Weile aber bleiben sie ernüchtert stehen: Was sollen sie mit so viel Geld? Es hört nicht auf, es wird sekündlich immer mehr. Geld, das es eigentlich gar nicht gibt! Das es zu erklären gilt.

„So viel kann keine Oma auf der ganzen Welt sparen! Brich‘ ab“, bittet Tom inständig und trocknet seine Brille.
„Geht nicht. Die Großrechner haben 'ne Logikroutine. Jedes extreme Minus oder Plus löst ein Kontrollprogramm aus. Jetzt haben die sich an unsere Kleinstbeträge gewöhnt.“
„Dann muss der Scheiß eben ganz schnell irgendwohin. Was nicht da ist, kann auch nicht auffallen. Und wenn wir nichts für uns behalten, sind wir auch nicht strafbar“, argumentiert Tom.
„Stimmt“, gibt Ecki nach längerem Nachdenken zu. „Kein Eigennutz. Is‘ aber unfair, wenn wir das nur bei einer Bank machen, finde ich.“
„Klarer Wettbewerbsnachteil“, entscheidet Tom.

Seitdem bekommen die verschiedensten Organisationen und Einzelprojekte auf der ganzen Welt viertelstündlich kleine Spenden von Omi. Sogar deutsche Schulen und Schwimmbäder werden bedacht. Die EDV weltweit hat bislang kein Problem damit, die Beträge sind zu klein, um prüfwürdig zu sein.

Letzte Aktualisierung: 24.11.2016 - 07.28 Uhr
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