Das alte Buch Mamsell
Das alte Buch Mamsell
Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
mehr ... ] [ Verlagsprogramm ]
 SIE SIND HIER:   HOME » MITMACH-PROJEKT » SCHREIBAUFGABE IMPRESSUM
NEWSLETTER
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

Jetzt anmelden! ]

UNSERE TOP-SEITEN
1.) Literatur-News-Ticker
2.) Leselust
3.) Forum
4.) Mitmach-Projekt
5.) Schreib-Lust-News 6.) Ausschreibungen 7.) Wettbewerbs-Tipps
Spiekeroogyssee

Kapitel 08 – Die blaue Kugel

Mo, 01.06.2009, 9.00 Uhr

Es waren einige Stunden vergangen, als Sven von einem Stoß in die Seite erwachte. Er öffnete die Augen und bekam einen heftigen Würgereiz. Nachdem er viel Meerwasser und etwas Sand erbrochen hatte, setzte er sich langsam auf und blickte direkt in das älteste und hässlichste Gesicht, dass er je gesehen hatte. Vor ihm hockte ein sehr alter und ungepflegter Mann, der ihn interessiert ansah.

»Na, Schläfchen aus? Du warst ja kaum wach zu kriegen. Ich habe mir fast den Finger an Deinen Rippen gebrochen!« sagte er mit einer kratzigen Stimme.
»Wo ist meine Freundin?«, fragte Sven verwirrt.
»Och, die ist schon seit einiger Zeit wieder auf den Beinen«, entgegnete der Alte. Und richtig, nur ein kleines Stück weiter saß Lara mit eng umschlungenen Beinen auf dem Strand, mitten in der von Tang, Muschelschalen und undefinierbaren Resten abgebildeten Flutlinie. Offensichtlich hatte er tatsächlich einige Stunden in der Bewusstlosigkeit verbracht; vor Erschöpfung, aus Verzweiflung? In jedem Fall lag der Höchststand der Flut schon einige Zeit zurück, und die Ebbe war dabei, ihre immer wieder neuen Muster in den Sand zu zeichnen. Seine Kleidung war trocken, und ihre Jacken lagen ganz in der Nähe im Sand. Und Lara saß mitten in dieser noch feuchten Masse; spürte sie nicht den Tang und die Muscheln? Und warum bemerkte sie ihn nicht? Hörte sie denn nicht, dass er aufgewacht war? Und warum überhaupt saß sie so abseits und überließ es diesem Wrack von Mensch, ihn, ihren Freund, wieder zu den Lebenden zu holen?
»Lara! ... LARA!«

Mühsam streckte er seine vor Erschöpfung schweren Arme ihr aus. Da sah er die starren, weit aufgerissenen Augen seiner Freundin; Blickrichtung offenes Meer. Versuchte sie immer noch, die Apothekerin zu finden? Das versunkene Wrack? Die unheimliche Besatzung? Ihr Erlebnis kam Sven jetzt, nach ein paar Stunden Bewusstlosigkeit, schon nicht mehr real vor. Nur die Gewissheit des sonstigen Irrsinns, der seit der Isolation der Insel in sein Leben eingedrungen war, ließ ihn die Erinnerung an ihren Ausflug überhaupt akzeptieren.
Wie lange saß sie schon so da?
»Lara, ich ...«
Selbst seine schwächlich wedelnde Hand brachte Lara nicht dazu, sich ihm zuzuwenden. Sven schluchzte; hatte das Meer Lara zu sich geholt und nur ihre seelenlose Hülle zurückgelassen? Lara, mit der er noch ein Kind haben würde? Mit dieser Lara?

Mühsam richtete er sich auf, kroch förmlich auf allen Vieren die wenigen Meter zu ihr und griff ihre Knie, versuchte ihre Hände zu lösen, riss sie beinahe um, ohne zu ihr durchzudringen. Voller Panik wollte er sie schlagen, nur eine oder zwei Ohrfeigen, so wie er es früher in Filmen gesehen hatte. Im letzten Moment zögerte Sven, fasste Lara stattdessen an den Schultern und schüttelte sie, konnte kaum noch aufhören. Aber ihr Kopf blieb seltsam starr, fokussierte weiter ein Irgendwo, so sehr Sven auch an ihrem Körper zerrte.
»Was ist mit Ihr?« Sven, dem die Tränen jetzt über das Gesicht liefen, drehte sich zu dem Alten: »Was hast du mit ihr gemacht? Was ...?«

Der Alte machte keinerlei Anstalten, ihm oder Lara zu Hilfe zu kommen oder sich auch nur zu rechtfertigen. Es schien vielmehr, als ob auch er etwas in der Ferne erblickte; mit zusammengekniffenen Augen, die dadurch fast in seinem faltigen Gesicht verschwanden, blickte er über das am Boden hockende Paar hinweg zum Horizont: die gleiche Stelle, die auch Lara in ihren Bann gezogen hatte.
Doch plötzlich sprang er auf, kam, mit der linken Hand den Blick gegen die Morgensonne beschirmt, heran, griff Sven und zog ihn zu sich hinauf.
»Siehst du das, Jungchen? Siehst du das auch?«

Sven hatte Schwierigkeiten, sein Gleichgewicht zu finden, musste sich an einem alten, vermutlich vom Wrack herangespülten Holzbalken festhalten, und versuchte dabei, auf dem endlosen Meer etwas zu erkennen. Und vielleicht eine Sekunde, bevor Sven sah, was sich verändert hatte, erwachte Lara flüsternd aus ihrer Starre: »... die Wellen ... sie brechen sich ... am Horizont ... Schaumkronen ...«

Schaumkronen. Na und, dachte Sven, Schaumkronen sind nichts Beson... Hinter den Schaumkronen wurde etwas anderes sichtbar. Ein dunkles, schmales Band, das sich über ein gutes Viertel der ansonsten ruhigen Linie zwischen Meer und Himmel erstreckte. Und es schien zu wachsen, Gestalt anzunehmen, sich zu festigen. Man sah ... Häuser, winzige weiße Punkte, aber doch: Häuser. Und überhaupt war das, was man sah, nichts anderes als das, was man bis vor einem Jahr dort immer gesehen hatte: das Festland!

»Lara!« schrie Sven, »Das das das ... das ist das Festland, das ist die Küste, da drüben liegt ... Neuharlingersiel! Die Flaschenpost! Der Junge! Mikael ...«
Lara wandte ihm ihr Gesicht zu, grinste, gluckste, verschluckte sich an diesem Freudenschreck, und dann fielen sie sich in die Arme.
»Wir sind gerettet!«, schrien sie trotz ihrer geschwächten Lungen, sprangen auf, vollführten einen freudentaumelnden Ringeltanz, während das, was sie für die Küste hielten, immer breiter und größer wurde. Und diesmal wagte es Sven, sie zu küssen, ohne überhaupt darüber nachzudenken. Das Leben war wieder schön! Sie würden hinüberfahren, nach Hause, nach ...
»Moment mal!« Lara stockte. »Moment mal, das hier ... das hier ist doch der ... Nordstrand! Und ... am Nordstrand, vom Nordstrand aus, da gibt es doch gar keine Küste. Da hat es noch nie eine Küste gegeben! Auch vor der Flut ...«
Die Illusion zerplatzte in ihren Köpfen wie eine Seifenblase.

»Mir ist schlecht!«, keuchte Sven, »das kann doch nicht ... was ist denn das SONST?!«
Der Streifen war kein Streifen mehr. Es war ein dunkler, fast schwarzer Bogen, der immer höher über die Horizontlinie hinauswuchs. Die vermeintlichen Häuser waren nichts weiter gewesen als längst ins Meer zurückgeflossene Gischtfetzen. Und darunter war die Fläche ... die Scheibe oder was auch immer, einfach nur blau. Tiefblau und scheinbar spiegelglatt, denn die aufgehende Sonne funkelte darin.

»Und du?«, fragte Laura den Alten, »wer bist du? Dich ... dich kenne ich doch, du bist doch ...«
»Ich bin's, Mikael, euer zukünftiger Sohn! Nur dass ich jetzt im Moment etwas älter bin«, kicherte er.
»Mikael?«
»Mikael, Mike ...«
»Wie alt bist du?«, fragte Dirk.
»Neun oder ... neunzig ...«
»NEUN?!«, kreischte Lara hysterisch.

Auf den Dünen erschienen die anderen. Schnell hatte sich herumgesprochen, dass da draußen etwas geschah, was die Absurdität ihrer Insellage noch in den Schatten stellte. Die Kirchenglocken läuteten Sturm, und nach zehn Minuten gab es auf Spiekeroog niemanden der, der sich nicht auf den Dünen und am Strand eingefunden hatte, um das Schauspiel zu beobachten.
»Und die Flaschenpost?!«, schrie Dirk gegen den Lärm an.

Während aus dem Bogen ein Halbkreis und aus dem Halbkreis allmählich ein Vollkreis wurde, und während dieser immer deutlicher die Gestalt einer perfekten Kugel annahm, einer Kugel von mehreren Kilometern Durchmesser, standen die ausgemergelten Menschen beisammen, ängstlich, teilweise weinend, teilweise sich umarmend, die meisten jedoch in einer Art hilflosen Ehrfurcht erstarrt.
»Mike!«, zischte Dirk, »hast DU die Flaschenpost ...?«
»Der Asteroid!« schrie jemand, »Von letzter Nacht, das ist er!«

Eine Frau kreischte, es klang wie »Pfingstfeuer!«, und dann fiel sie mit verdrehten Augen in Ohnmacht. Nur Mike kicherte. Entweder, weil er wusste, dass ihnen nichts geschehen würde, oder aber weil Mike ... Nein! Sven wollte das nicht zu Ende denken. Als die gigantische blaue Murmel mit einem dumpfen, hohlen Knall das Meer verließ und wie Perry Rhodans Flagschiff langsam emporschwebte, löste sie damit eine mächtige Flutwelle aus, die sich wie ein von Riesenhänden geschaffenes Gebirge drohend auftürmte. Die Menschen schrien verzweifelt auf, der Tsunami würde sie alle verschlingen, denn eine Fluchtburg gab es nicht! Plötzlich lief ein Licht über die spiegelnde Oberfläche der Kugel, erhellte gleißend die Welt und dann stürzte die Riesenwoge mit einem beinahe protestierenden Brüllen einfach in sich zusammen. Lediglich ein paar Wellen, die vielleicht Surfer begeistert hätten, rollten auf den Strand zu.

Der Alte ließ sich die Füße umspülen. Er grinste Sven und Lara zu. »Guter Effekt, was? Das machen die jedes Mal. Immer ganz großes Kino.«
Lara wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und sah der kleiner werdenden Kugel nach, die bereits weit oben am Himmel in Richtung Westen verschwand. »Wer sind 'die'?«
Der Alte, ihr zukünftiger Sohn, zuckte die Schultern. »'DIE, halt. Sie haben es nicht nötig, uns ihren Namen zu nennen. Sie waren vor uns und werden nach uns sein. Sagen DIE jedenfalls. Wir sind so 'ne Art Langzeitstudie am lebendigen Objekt. Wobei DIE ziemlich unwissenschaftlich vorgehen, so wie sie sich einmischen, wenn ihr mich fragt.«
Dann wendete er sich der Morgensonne zu. »Wird kein schöner Tag heute«, sagte er, »das nächste Unwetter drückt mir schon auf die Knochen. Vielleicht sollte ich euch ein bisschen auf die Sprünge helfen, was eure Möglichkeiten angeht. Das wird DIE zwar nicht amüsieren, aber sie halten sich ja nicht mal selbst an ihre eigenen Regeln.«

Die blaue Kugel war inzwischen trotz der gigantischen Ausmaße nicht mehr zu sehen. Leidlich beruhigt gingen die Inselbewohner zurück zu ihren Häusern und an die Arbeit, wobei sie aufgeregt über das Erlebte sprachen. Auch Lara und Sven machten sich auf den Heimweg, Hand in Hand, ein wenig scheu noch. Mike ging ein Stück hinter ihnen und führte hin und wieder Selbstgespräche.
»Was murmelt der da?«, fragte Lara und schaute irritiert zu ihrem zukünftigen Sohn zurück.
Dirk zuckte zusammen: »... MURMELT?!«
»Schon gut ...«

 LINKTIPPS: Naturwaren Diese Website wird unterstützt von:

www.mswaltrop.de
Copyright © 2006 - 2024 by Schreiblust-Verlag - Alle Rechte vorbehalten.