'paar Schoten - Geschichten aus'm Pott
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Das Ruhrgebiet ist etwas besonderes, weil zwischen Dortmund und Duisburg, zwischen Marl und Witten ganz besondere Menschen leben. Wir haben diesem Geist nachgespürt.
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Kapitel 28 - Die Uhr

Die Uhr erinnerte sie an Uhren, die Feuerstürme wie in Dresden oder Hiroshima überstanden hatten. Die Zeit abgerundet und zusammengebacken, die Zeiger mit dem Zifferblatt verschmolzen. Es war nicht mehr festzustellen, wo die Zwölf herausgeragt hatte aus dem glatten, vielleicht weiß emaillierten Grund. Aschengrau lag das Ding in ihrer Hand, hatte eine Schwere, die sich ihr über die linke Handfläche, den blanken Arm bis in die Brust mitteilte. Sie meinte, ein komisch falsches Ticken im Herzschlag vernehmen zu können.

Was sie aus den Buchstaben herauslas, konnte Sankt Maria zur Höh bedeuten. Vielleicht war auch nur der Name des Uhrmachers eingraviert oder wieviele Steine die Unruh zum Schwingen gebracht hatten. Lara kratzte mit dem Nagel des Daumens über die verkrustete Schrift. Ein Gefühl befiel sie, wie beim Schreiben mit Kreide auf einer Tafel oder wenn der angebrannte Bodensatz aus einer Pfanne entfernt wird.

Selbst Sven lief ein Schauer über den Rücken. Beide mußten lächeln, weil sie annahmen, daß der andere genau dasselbe dachte in diesem Moment. Sie waren wieder zu Hause, hatten zusammen gekocht, gegessen, sich kurz gestritten, mehr geneckt, wer das Spülen übernimmt. Ganz normaler Alltag, in dem die Zeit keine große Rolle spielt, wenn man einmal außer Acht läßt, wie lange es dauern kann, auf den Feierabend zu warten. Und das einzige Abenteuer, bei einer langen Anfahrt zur Arbeit über die Autobahn einen Unfall zu sehen und trotzdem pünktlich zu sein.

„Apen kijken“ hatte Sven auf einem LKW gelesen, von dessen Bordwand ein Gorilla und ein Schimpanse zu ihm herabsahen. Davon hatte er natürlich Lara erzählt am Abend. Es war die Zeit, die angenehm verging, ohne daß sie sie überhaupt wahrnahmen. Ein tropfender Wasserhahn zwei Zimmer weiter. Wochen später, sagte Lara zu ihm, weißt du noch, und natürlich erinnerte er sich. So schnell vergangen, unbemerkt, und nicht wieder einzuholen.

„Sankt Maria, war da nicht der Trauergottesdienst für deinen Vater?“ fragte Sven. „Merkwürdig, ja.“ „Und der Pfarrer hat doch auch über Zeit gesprochen, eine Zeit zu leben und eine zu sterben, glaube ich.“ „Und weinen und lachen und lieben kamen auch vor.“ „Das ganze Leben.“ „Mein Vater hatte es verloren und wir...“ Lara kratzte, ohne es zu merken, weiter an der Uhr. Kein Geist erschien, keine Erleuchtung kam ihnen.

Ein Stück von ihrem Nagel brach ab. Natürlich hatte sie ihre Nägel lange nicht mehr pflegen können, trotzdem ärgerte es sie, weil sie wußte, daß sie immer wieder mit dem Zeigefinger über die unrunde Stelle würde fühlen müssen. Halb im Scherz, halb verzweifelt sagte Sven: „Kannst du sie aufziehen? Sie muß doch in Gang zu bringen sein.“ An der Seite ragte etwas hervor, das einmal ein Rädchen gewesen sein mochte. „Du spinnst!“

Sven riß ihr die Uhr aus der Hand und versuchte, an dem winzigen Teil zu drehen. Es ruckte kurz, knackte ab und fiel ohne Geräusch in den Sand. Nie hätten sie es hier wiedergefunden. Selbst ein Metalldetektor hätte nicht ausgeschlagen. Sven wollte die Uhr schon wegwerfen, war versucht, sie wie einen glatten, flachen Stein über die Wasseroberfläche hüpfen zu lassen. „Gib her! Gib mir sofort meine Uhr wieder!“

Er war etwas beleidigt, daß sie so unwirsch reagierte. „Manchmal habe ich den Eindruck“, sagte er nach einer Weile, „daß wir auch wie Tiere, Menschenaffen in einen großen Käfig gesetzt wurden, von wem auch immer. Und die beobachten uns. Wir sind Teil einer Versuchsanordnung. Überleg doch mal, was alles passiert ist, die verrücktesten Sachen.“

„Aber wo sind die Gitter? Wir sind frei, könnten jederzeit gehen, den Ort, wo wir uns befinden, verlassen.“
„Das glaube ich nicht.“
Beide stutzten, blickten um sich, von außen, von hoch oben, hätte es ausgesehen, als würden sie befürchten, beobachtet zu werden, als würden sie ängstlich erwartungsvoll dem zu späten Kommen ihres Wärters entgegenfiebern. Um mit stinkenden Brocken gefüttert zu werden.

Sven sagte: „Im Zoo können die Affen die glotzenden Menschen ganz schnell vertreiben, wenn sie ihr Futter erbrechen und es genüßlich wieder aufessen.“
„Das ist ekelhaft.“
„Eben. Vielleicht sollten wir das auch machen und wenn uns jemand beobachtet, würden wir ihn leicht vertreiben können.“

Lara wandte sich von Sven ab. Sie sah auf das heranbrandende Wasser, die sich gegenseitig aufhebenden Wellen, auf den leicht gekräuselten Sand, die Wolken, die immer etwas vorgaukeln wollten und bevor es ins Bewußtsein kam, schon wieder eine andere Form annahmen. Wind wirbelte Sandkörner und Federn eines Vogelkadavers bis in Laras Gesicht. Sie machte eine Bewegung mit der Hand, als wollte sie sich wehren, gegen die Zeit, sie fühlte den verbrannten Gegenstand. Jetzt erinnerte sie die Uhr an jene, die sie von ihrem Vater geerbt hatte. Und hatte die nicht auch keine Zeiger und kein Zifferblatt besessen?

Sie machte eine Bewegung mit der Hand, als wollte sie sich wehren, gegen die Zeit, sie fühlte den verbrannten Gegenstand. Jetzt erinnerte sie die Uhr an jene, die sie von ihrem Vater geerbt hatte. Und hatte die nicht auch keine Zeiger und kein Zifferblatt besessen?

Was sollte man mit so einer Uhr anfangen? Zeit, die nicht mehr durch die Drehung der Zeiger in die richtige Reihenfolge geordnet wurde, die ohne Ordnung umhertoste im Innern der gesichtslosen Uhr, die wie das Wasser im Meer überall zugleich war.

Sie ist neun Jahre alt und steht in einem goldenen Kornfeld unter einem cyanfarbenem Himmel. Das Geschrei der Vögel wird nun immer lauter. Sie breitet die Arme aus. Ihr rechter und ihr linker Arm sind die Zeiger einer Uhr.

"Eins." sagt der Rabenkönig.

Die Zeit. Die Zeit ist überall, geht es Lara durch den Kopf.

Sie rennt hinter ihrem Vater her, der vor dem Eingang des Leuchtturms steht. Es ist neun Uhr. "Die Zeit ist überall" ruft sie mit ihrer Kinderstimme. Ihr Vater hält inne, dreht sich zu ihr um. Sein Gesicht ist leer.

Ihr Herz schlägt in Laras Ohren, wie eine Druckwelle, aus der das spitze Ticken des Uhrwerks hervordringen will.

Es ist September, Tabletten neben dem Wasserglas, der Wecker steht im Nebenzimmer, und Lara kann nicht schlafen. Immer wieder zupft das stete, zuckende Geräusch an ihrem Bewusstsein, hindert sie daran, herüberzurutschen in die dunkle, wohltuende Wärme des Schlafs, das Ende allen Mühens, das Ziel der Reise.

"Mehr Sevofluran." Die falsche Ebene. Nicht hierbleiben.

Das Ziel der Reise. Der Leuchtturm. Nicht ihre Tabletten - es waren Vaters Tabletten. Sein Schlaf. Die Uhr ohne Zeiger, die er ihr hinterlassen hat. Die tosende Zeit.

"Zwei", sagt der Rabenkönig. Sven. Sie ist mit Sven am Strand. Der Sand unten, der Himmel oben. Vor ihr das Meer. Sven schreit.

Die Zeit brennt. Die Zeiger der Uhr schmoren, biegen sich in der Hitze, braune Blasen wölben sich auf dem Zifferblatt.

Die Tabletten waren in dem Buch versteckt. Aufgeregt flattern die Seiten, als Lara es im Zorn durch den Raum schleudert.

Der Strand. Der Wind tost in ihren Ohren. Sven schreit, ohne das ein Ton zu hören wäre, und deutet auf Ihren Bauch. Lara blickt an sich herunter. Ihr Bauch ist flach.

"Neun", sagt der Rabenkönig.

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