Mainhattan Moments
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Susanne Ruitenberg und Julia Breitenöder haben Geschichten geschrieben, die alle etwas mit Frankfurt zu tun haben.
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Spiekeroogyssee

Kapitel 29 - Die Insel (Ende)

Lara schaut an sich herunter, schaut Sven an. Soll sie jetzt lachen oder weinen? Doch bevor sie sich entscheiden kann, lässt der laute Gesang von Kapitän Lukas beide aufhorchen. Lukas kommt den Strand entlang geschlendert, den kleinen Mike auf dem Arm.

„Ihr solltet besser auf ihn aufpassen!“ Lukas setzt den Jungen vor Sven und Lara in den Sand. „Ihr werdet ihn noch brauchen, um diese verdammte Insel zu retten.“ Dann spaziert der Kapitän singend weiter; mit seinem Gesang hat sich der Sturm gelegt.

„Mike!“ Lara nimmt ihren Sohn in den Arm. „Wo kommst du denn jetzt her? Und was hast du da um den Hals?“ Sie greift nach dem Lederbeutel, der an einer Schnur auf der Brust des Kleinkinds baumelt und öffnet ihn. Acht blaue Murmeln! Mike jauchzt und streckt die Hände danach aus.

„Ach ja, das hätte ich fast vergessen.“ Der Kapitän ist noch einmal zurückgekommen, lässt eine neunte blaue Kugel vor Lara und Mike in den Sand plumpsen. „Die musste ich ja aus dem Bürgermeister herausoperieren.“ Er kichert. „Aber jetzt braucht ihr mich wirklich nicht mehr.“ Wieder geht er singend von dannen.

„Den werden wir nicht mehr sehen“, murmelt Sven in sich hinein. Er greift nach der letzten Murmel. Versteht plötzlich. „Heute“, sagt er aufgeregt. „Heute jährt es sich.“
„Was jährt sich?“ Lara hat Mike zurück auf den Strand gesetzt und ein Loch in den Sand gedrückt. Langsam lässt sie eine Murmel in die Vertiefung rollen.
„Der Asteroideneinschlag! Die Sturmflut jährt sich!“

„Du meinst, heute haben wir die Chance, Spiekeroog wieder in die Welt zu bringen?!“ Lara schaut ungläubig auf den Jungen vor ihr im Sand, der zwar offensichtlich noch nicht sprechen kann, aber perfekt mit den Murmeln umgeht. Zielstrebig schnippt er eine nach der anderen in die Mulde und schaut sich dann suchend nach der neunten Murmel um. Sven zieht ihn weiter von der Vertiefung weg, bevor er ihm die kleine blaue Kugel gibt.

„Du wirst uns retten. Du und deine Murmeln.“ Mike versenkt auch diese Murmel mühelos; wie von einem Magneten angezogen fliegt sie über den unebenen Sand.
„Ja, natürlich!“ Jetzt schlägt auch Lara sich vor die Stirn. „Die Legende vom Neunerjungen. Mikael ist der Neunerjunge. Warum sind wir da nicht früher drauf gekommen?!“

„Gegen wen, meinst du, muss er um die Insel spielen?“
„Gegen den, der sich Spiekeroog unter den Nagel reißen will. Gegen IHN.“ Laras Augen verdunkeln sich bei dem Gedanken.
„Mikael wird gewinnen“, versichert Sven. „So geht doch die Legende, oder?!“ Diese Zielstrebigkeit, mit der Mike die Murmeln …
„Meinst du, dann wird alles ungeschehen, was in diesem schrecklichen letzten Jahr passiert ist?“
Sven zuckt mit den Schultern. Er will nicht so weit denken. Nicht zu viel erhoffen. Denn das würde bedeuten, dass seine Eltern … „Es wäre ja auch schon toll, wenn wir die Insel für die Zukunft retten könnten.“
„Wenn Mikael die Insel retten könnte“, verbessert Lara.

„Genau. Aber dazu brauchen wir IHN.“ Sven sammelt die Murmeln aus der Vertiefung im Sand und füllt sie sorgfältig zurück in den Lederbeutel. Den hängt er sich um den Hals.
„Nimm du Mike. Und die Uhr. Wir müssen IHN suchen.“
„Er ist bestimmt in der Linde. Raucht und säuft mit den anderen.“

Der kleine Mike spielte mit Laras Haar. „Autsch, nicht ziehen!“ Lara stupste seine winzige Nase und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Die Kinderaugen strahlten. Sie dachte an den Mike aus der Zukunft. Wie ihr Sohn sich noch verändern würde. Die kommenden Jahre würden ihn prägen, seinem jetzt so glatten und unschuldig lächelnden Gesicht Ausdruck geben. Er hat noch so viel vor sich, wird sich irgendwann für Raumfahrt interessieren. Lara dachte an die Technik, die der Knirps vorhin an den Tag legte, als er die Murmeln in die Mulde manövrierte. Sie war sehr stolz auf ihr Kind. Obwohl – eigenartig war es, ihn schon als Erwachsenen gesehen zu haben.

„Hey, ihr beiden! Legt mal einen Schritt zu!“ Sven sah auf Lara, wie sie Mike auf der Hüfte trug und mit ihm herumfeixte.
„Der Neunerjunge hat noch viel Zeit, bis er groß ist. Er darf noch etwas mit seiner Mutter spielen“, lachte Lara und winkte Sven zu, der weit vor ihnen oben auf der Düne stand.
„Wir kommen!“
Sie erschrak als sie plötzlich eine Stimme hörte: „Wann kommt die Fähre denn endlich an? Es ist so langweilig hier!“

Lara wollte weitergehen. Es ging nicht. Sie sah auf Mike, wie auf ein Foto. Sie hörte, dass in schneller Folge Tasten angeschlagen wurden – wie von einem Laptop. Lara umklammerte ihr Kind, hielt den kleinen Körper mit letzter Kraft.

„Wer spielt denn sonnst pausenlos mit seinem Nintendo und sieht nichts anderes mehr?“ Die Frauenstimme kam Lara bekannt vor. Es war ihr, als würde sie sich selbst hören. Die Stimme flüsterte: „Nicht mehr lang. Du. Hm ...!“ Es war sehr leise, klang liebevoll und tröstend.

Jetzt konnte Lara sich wieder bewegen, einen Schritt tun. Ihre Hand glitt zu Mikes kleinem Fuß. Seine Zehen spreizten sich, als er zu einem Freudenkreischen ansetzte und zum Meer hinüber sah. Das Tippen wurde schneller.
„Sven, da kommt ein Schiff! Sven, komm!“
Mike rief laut mit: „Sven, Tiff tommt! Tomm!“

Lara strich ihrem kleinen Jungen übers Haar, eigenartige Wortfetzen schwirrten durch ihre Gedanken. Was ging hier nur vor? War es, wie sie es schon einmal vermuteten? War alles nur Illusion? Diese Stimme in ihrem Kopf! Die Tastatur schlug in gleichmäßig schneller Abfolge an.

„Schiff kommt! Kooommm!“ Lara strich dem Neunerjungen übers Haar. Sie wusste, dass sie ihr Glück jetzt festhalten musste. Was auch immer es war, sie stand hier und hatte ihren Sohn auf dem Arm. Das war real. Das war die Wirklichkeit und kein Traum.

Sven rannte auf Lara zu, sah die Fähre am Horizont. Ein Spielzeugschiff. Aus den Wolken formte sich ein großer Teddy. Etwas weiter schwamm eine riesige Ente am Abendhimmel. Sein Sohn Mike hatte nie ein Kinderzimmer gesehen. Ganz egal, was war oder nicht war. Er würde seine Frau und sein Kind ganz fest an sich drücken.

„Lara!“ Sven berührte ihr Gesicht. Sie war so weich und warm.
„Sven! Hörst du das auch? Das Kind und die Frau, das Klackern einer Tastatur? Da schreibt jemand.“ Lara drückte Svens Hand. „Jetzt, gerade wieder!“
Mike wippte und streckte seine Arme zu seinem Vater.

„Komm, ich nehme ihn“, sagte Sven mit sorgenvollem Blick.
Lara trat zur Seite und atmete tief durch: „Sven, es ist so merkwürdig, die ganze Zeit. Da, jetzt! So hör doch, da schreibt jemand! Da! Da sind noch andere! Wie siehst du mich nur an? Sven! Sieh mich nicht so an! Sven, so hör doch!“

Wird sie denn schon wieder verrückt?, dachte Sven. Immer wird sie verrückt. Frauen. Lara ... Meine Lara. Tastatur ... sind das Töne in ihrem Kopf, ist es das, was sie da hört?
»Hör doch, Sven!«
»Ich höre nichts!« Ich will nichts hören ...
»Und das Schiff? Das siehst du wohl auch nicht ...?«
»Halluzinationen, Fata Morganas, Lara, du ...«
Mike löste sich von ihm, sprang zu Boden und lief zum Strand.
»UND UNSER SOHN???« Lara schrie, »Ist das auch eine ... Halluzination?«

Sven seufzte und sah Mike hinterher. Der Junge tapste zu den Betonstümpfen, die sich ins Wasser hinaus aufreihten. Ach hier sind wir, dachte Sven, am alten Anleger, so weit gelaufen?

Das Schiff war echt. Das Schiff, das sich dem Strand näherte. Aber es war nicht das erste Schiff seit der Flaschenpost. Und eine Fähre war das auch nicht. Nur ein Boot, ein Kanu, es trieb, von einem ermüdend leeren Horizont kommend, langsam aufs Ufer zu - und darin ... darin saß ein einziger Mensch, mit einem quer aufgeschlagenen Buch auf den Knien und auf dem hochgeklappten Buchdeckel konnte man trotz des Gegenlichts einen leuchtenden, angebissenen Apfel sehen. War das DAS BUCH? Das gleich - mal wieder - aufflattern würde?

»Klack ... Klack-Klack ...«

War das ... Kapitän Lukas, der Bürgermeister, oder Frau Neune? Nein, Sven verdrehte die Augen, schon wieder wer neues, ich will es gar nicht wissen ...
»Wer ist das?«, fragte Lara, »Mike, komm zurück, der ... der sieht aus wie ...«
»wie ER ...« flüsterte Sven. Von wegen, ER säuft und raucht in der Linde. Was soll man auch saufen, außer dieses vergorene Gesöff aus Sanddornsaft, was rauchen, außer getrockneten Kiefernzapfen ... ER würde nicht ein zweites Mal mit den Inselaffen in der Linde warten, er würde kommen und Sven ...
Der Mann in dem Boot trug einen lächerlichen Cowboyhut ...
»WER SAGT DAS?«

Sven stockte das Herz. Wer hat DAS gefragt?! Das stumpfe »Klack ... Klack-Klack ... Klack ...«, das er NIE gehört hatte und das doch immer da gewesen war, wie ein stilles Rauschen im Haus, wie die Heizung im Keller, die Wasserleitung, der Stromzähler, ein Geräusch dessen man erst gewahr wurde, wenn man es nicht mehr hörte, es war mit dieser Frage ohne Fragenden verstummt.

Sven hielt sich die Ohren zu, wollte nichts hören, wollte erst recht nicht NICHTS hören; er konzentrierte sich auf den Mann, der sein Buch zuklappte und beiseitelegte, während das Boot antriebslos oder WIE VON GEISTERHAND BEWEGT die Waterkant erreichte.

Der Mann stand sich auf. Cowboyhut, Poncho und darunter, lässig im Halfter am Oberschenkel: ein Revolver. Clint Eastwood in seinen besten Zeiten ...
Sven fing an zu lachen.

»HAHAHA ...!«, von wegen Cowboy, der Mann, der da ausstieg und auf cool machte, der Mann, dessen Lederstiefel den nassen Sand eindrückten, federnd, lässig auf Sven zuschreitend, das also war ... ER? Sven musste erst recht lachen, als ER statt der Pistole eine goldene Uhr zückte, DIE goldene Uhr, und mit rauchiger Stimme »Time out!« sagte.

»Hahaha, 'time out', der war gut, hahaha ...!«
»Du weißt, wer ich bin ...«, sagte der Mann mit einem Gesicht aus Stahl, »du weißt ...«
»Natürlich weiß ich ...«, prustete Sven und schüttelte sich vor Lachen, »Papa!«, rief Mike, »Sven!«, rief Lara, »Hahahaha!«, johlte Sven.
Der unrasierte Kerl wollte Sven mit seinem stechendem Blick niederstrecken, doch Sven konnte gar nicht mehr aufhören zu lachen.

»Herr Derhank, hahaha, Herr D... ER... hank«, prustete Sven, »meinen Sie wirklich, Ihre Maskerade beeindruckt mich noch? Nach alldem? Meinen Sie wirklich, ich würde Sie nicht erkennen? Hahaha ...!«
Im Cowboypokerface zuckte es, »... aber, ... ich ...«
Sven holte tief Luft.
»Papa!!!«
»Sven!«
»Mörder meiner Eltern!«, Sven schüttelte den Kopf, »was für ein Scheiß!«
»Ich ...«, die Cowboystimme wurde brüchig, »... ich dachte, wir könnten die Sache etwas stilvoller beenden ...«
»Ja sollen wir uns jetzt duellieren oder was?!« Wieder musste Sven lachen, »Herr Derhank, time out, time over, Sie haben recht, lassen Sie uns die Sache beenden ...«
Herr Derhank wurde rot. Dann fasste er sich: »Einen noch ...«
»Was denn ...?«
»Sven!«, schrie Lara, die noch immer am Rand der Düne stand, »Sven, da kommen noch mehr ...!«

Tatsächlich! Eine ganze Flotte aus Ruderbooten, Schlauchbooten, Barken, Kajaks und Kanus näherte sich der Insel. Und hinter sich hörte Sven Stimmen. Als hätten sie es geahnt, waren die Bewohner Spiekeroogs den langen Weg aus dem Dorf gekommen, sammelten sich oben auf den sandigen Hügeln, schritten langsam den Betonplattenweg hinunter. Alle Spiekerooger, alle die das vergangene Jahr überlebt hatten, und all die Typen, die noch hinzugekommen waren, das reinste Stelldichein.
Erneut wünschte sich Sven, auch seine Eltern unter den Leuten zu sehen, aber nein, ich bin doch kein Fantast. Bin ich nicht, dachte er. Der falsche Cowboy grinste, als hätte er Svens Gedanken gelesen, und rief zu dem Kind: »Mike, komm mal her! Mike ... was hast du da?«

Mit scheuen Kleinkindschritten kam Mike näher, immer wieder zurück aufs Meer schauend, auf die vielen Boote, die bald den Strand erreichen würden, auf die vielen rudernden und paddelnden Leute, die sie gleich besuchen würden.
»Mike, was hast du da in der Hand?«, fragte Herr Derhank.
»Faffe!« sagte Mike.
»Gib sie mir!«
»Die Flaschenpost!«, rief Sven. »Mike woher ...?«
Mike hatte sie aus dem Sand gezogen, genau da, wo vor ... wie lange ist das jetzt her? Ein Monat? Jedenfalls, genau da habe ich sie auch gefunden! Und jetzt habe ich einen Sohn!

Die Flaschenpost war gar keine Flaschenpost, sondern ein Buddelschiff. Auch kein Buddelschiff, Herr Derhank hob es hoch, und Sven trat neugierig näher: In der Flasche eine stilisierte Miniaturinsel aus verleimtem Sand, aus Moos- und Holzfasern, weißen Steinchen mit roten Punkten, wie winzige Häuschen, und sogar die Kirche war zu erkennen - die Insel klebte an der Flaschenwand, die sie gläsern umschloss wie das Meer, das unendliche ...
Herr Derhank drehte an dem Korken und im selben Moment zitterte der Boden unter ihren Füßen. Das Meer - das echte, da draußen - schwappte, die vielen Boote tanzten, und dann machte es »Plöpp!« und zwar so laut, dass es vom Himmel widerhallte.
Mike kicherte: »Pöpp!«

»Aaaaachtung!«, rief Herr Derhank mit gewichtigem Blick, schnippte mit den Fingern und da war der blaue Himmel blutorange.
»Boah!«
Ein Raunen ging durch die Menschenmenge, die zusehends den Strand füllte und nach oben schaute. Erst verhalten, dann lauter, man klatschte Beifall, applaudierte.

Sven stemmte die Fäuste in die Seite.
»Das ist ALLES dein Werk?«
Herr Derhank grinste stolz, hielt den nun offenen Flaschenhals in die Nachmittagssonne. Worauf die sich BLAU verfärbte! Blaue Murmel am roten Himmel. Ein aufgeregtes »Oooh!« und »Aaah!« ging durch die Menge.
Sven schüttelte den Kopf. »Du bist hier wohl der große Zampano, was? Und DIE da?«

Die da, das waren 50 Männer und Frauen aller Altersstufen, die soeben anlandeten, die ihre Schiffe wie Wikinger an Land schoben.
»Was machen DIE?«
»Och, nichts ...«
»Nichts? NICHTS??? Und DAS da?!«

Das da, das waren dampfende Schüsseln und Töpfe, das waren halbe Brathähnchen und ganze Spanferkel, Körbe voller Früchte, Brot und Kuchen, Nudelaufläufe und gefüllte Teigtaschen, Kasserollen und Kalebassen, Saftflaschen, Bierfässer und Weinkisten, und stapelweise Geschirr, Gläser, Besteck und Blumen, haufenweise Blumen mit dazu passenden Vasen, das war DAS da und wurde von den Ankömmlingen aus den Booten entladen.

»Nichts?«, fragte Sven, sah Herrn Derhank an und setzte seinen Zeigefinger unters linke Auge, »Nichts ...? Ich würde sagen, das ist mal was Reelles!«
Herr Derhank schaute abwechselnd auf das Buddelschiff und auf seinen Fruchtgummihimmel und machte »hmmm...«

Die Insulaner jubelten. Essen! Richtiges Essen! Kein gestreckter Strandhaferschleim, keine ausgekochten Muschelschalen, keine Algensuppe mit zermatschten Wacholderbeeren, das, was da herangetragen wurde, das war Gott!
Man lief den Besuchern entgegen und nahm ihnen die Sachen ab, zugleich wurden Tische und Bänke herangeschleppt, die Leute räumten die hinter den Dünen gelegene Kneipe aus, auch die anderen Häuser der Westküste, ein kleines Wunder, wie viel da zusammenkam, Tischreihe an Tischreihe, und für jeden war ein Platz! Auch Sven verlor das Interesse am Himmelshokuspokus. Hunger! ESSEN!

»Komm, Lara, komm Mike, wer ... wer sind die eigentlich ...?«
Lara lachte, »bin ich verrückt oder du? Erkennst du sie nicht? Marika, hey, da ist Marika Bergmann ...!« Die Gerufene lachte, kam, umarmte Lara wie eine beste Freundin und gab ihr ein weißes Kästchen, »der Nintendo!«, sagte sie, »für deine Tochter ...«
»Ach, meine schlimme Tochter«, schmunzelte Lara.
»Lara ...!« Sven kratzte sich am Kopf.
»Ja Sven!«, sagte Marika, »ist auch DEINE Tochter ...« und umarmte auch ihn.
»Aber meine auch!«, rief eine andere Frau.
»Susanne!«, Lara strahlte, und Sven: »Du bist Susanne? Susanne Ruitenberg?«
»Ganz genau, die Mutter deiner Tochter!«
»Na na na!«, machte Lara und alle lachten.

Schon kam das Mädchen, Laras Tochter, Händchen haltend mit Bernd, jung und schön, »wie die Mutter ...«, flüsterte Bettina Krause hingerissen, das Mädchen aber nahm nur mit mürrischem Gesicht den Nintendo entgegen und stiefelte ohne ein Wort davon. Und Bernd hinterher. »Pubertät« rief Britta Odenthal, »da werden sie zu Monstern!«

»He! Bernd!«, rief Heike Wulf, »du treibst es mit der Tochter deines Kumpels?!«, dann schüttelte sie den Kopf, »was ist nur aus meinem Bernd geworden ...«
»Das mit dem Zeugen war aber von mir!«
»Ach Michael, Michael Schild, du doch nicht, der wahre Vater von Mike bin doch ich, Louis Jansen!«

»Aber DER da hat aus Mike einen alten Knacker gemacht!«, rief Ursula Posse-Kleimann und zeigte auf Hellmut Neidhardt, der zusammen mit Torsten Junicke einen gigantischen Verstärker aus einem Boot wuchtete, nebst Gitarrenkoffer und weiteren klobigen Kisten, und der zu den Insulanern rief: »Wo gibt's hier Strom?«
Schon schleppte ein blau aufgedunsener Jörn Petersen eine Kabeltrommel herbei, deren abrollende Leitung sich hinter den Dünen verlor. Und ein schuldbewusster Kai Brunner schob aus Tischen und Bänken für die 'Surfguys from Outer Space' eine Bühne zusammen, während die beiden Musiker das Equipment zusammenstöpselten. Die habe ich viel eher erwartet, dachte Sven, und Hellmut warf ihm einen Seemannsgruß zu.

»Hey, Ihr heavy Folks», rief Jochen Ruscheweyh, »da wird kein einziger Ton rauskommen! Die Insel hat keinen Saft!«
»Dann halte ich eben eine Bürgermeisteransprache«, antwortete Torsten, grinste aber nur, denn da tauchte plötzlich der echte Bürgermeister auf, der Bürgermeister, dessen Kopf wie eine explodierte Melone aussah, die jemand dilettantisch, aber mit viel Liebe, wieder zusammengesetzt hatte.
Er wurde geführt von Frau Neune, die noch immer ganz sandig war und Derkje Sommer einen missbilligenden Blick zuwarf. Die aber kicherte nur, »... das mit dem In-Sand-Auflösen dürfen Sie nicht so wörtlich nehmen ...«

»Eva!« rief Frau Neune, »Eva Howe, meine ...« - »Quersumme?« Eva grinste, umarmte die Apothekerin und klopfte ihr den Sand ab.
»Und wir?« riefen Anke Derksen und Dirk Retzlaff wie aus einem Munde, während sie - es gab ja wirklich keinen Strom - mit getrocknetem Dünengras ein Feuer unter ihrer Frikandelfritteuse entfachten. Eva reichte ihnen eine Packung Tofuwürste und lachte: »Ihr doch auch ...«

»Und da: Das ist doch Karin Vogel, die Meisterin DES ...«
Karin lachte, »Na, na, Meister des ..., das ist doch wohl eher Thomas Kade ...«, der bei ihr stand und lächelnd seine Brille putzte. »Du meinst meisterlicher, als so ein pubertärer Schuss ins Blaue?«, grinste Roman Adam, »Blau wie die Sonne über unseren Köpfen!«, sagte Thomas.

Auch ohne Strom spielte nun die Band auf, das Schlagzeug war laut genug und zusammen mit der unverstärkten E-Gitarre strichen humoristische Ambient-Loops über die Festtafel, die nun gedeckt war. Im feierlichen Rot des Himmels nahm man Platz. 50 Besucher, deren Vorräte unerschöpflich waren, mischten sich unter 2000 Insulaner. Alle aßen, tranken, schwatzten und waren glücklich.

»Carla Thede und Merle Tucholka, ihr zwei habt mich stark wie eine Bärin gemacht!« - »ein bisschen Frauenpower muss sein, wenn die Kerle nicht weiterkommen ...« - »Ach Elke, du ...« - »Für dich immer noch Elke Kutz, Fräulein Sophie L, was sollte das eigentlich mit Laras 'Mutterinstinkt'?« - »Und du Bernd Kleber, fliegende Elefanten, hohoho ...« - »Ja ja, Robert Poleschny, bei dir wären sie unsichtbar geblieben, was?« - »War das eine Anspielung? Hans-Peter, die meinen uns ...!« - »Martina, wir Peschs lieben es doch, im Geäst der Linde zu munkeln!« - »Britta, hey, da ist Britta Blaesius, da unter den Möwen ...« - »Jonfen, das sind keine Möwen, das ist das Buch, jenes, welches ...« - »Ach Britta, fliegende Bücher ...« - »Bei mir konnte es noch nicht fliegen!« - »Georg ...«, rief Britta und schaute hinauf zu den beiden Vögeln, dem weißen und dem schwarzen. Während Möwe Georg auf der Tafel einen saftigen Schiss landete, malte der blauäugige Rabenhorst mit kunstvollen Bewegungen einen Namen in die Luft: »Rabea Darkow«, und als er fertig war, landete er auf der Schulter derselben, die mit noch blaueren Augen ihre Tischnachbarin ansah: »Bist du nicht Anette Klinkenberg? Die mit der krassen Idee, man könne in Murmeln einfach hineinsteigen?« - »Nicht so krass wie Sylvia Seelerts Welt hinterm Lichttor!« - »... es muss ja beides geben, krasse Ideen und Innehalten, wie bei Irmgard Anderfuhr und Christina Stöger, die beiden ...« - »... wenn man nicht gerade von unsichtbaren Mächten mit Gewalt innegehalten wird, nicht wahr, Barbara Schmidt?« - »... oder man sich, wie bei Bettina Forbrich, ans Schönste nicht mehr erinnern kann ...« - »... oder wie Gisela Schalk nicht die Lösung preisgeben ...« - »dabei war das Ritual von dir, Katrin Knospe, ein guter Ansatz ...« - »aus dem Roswitha Koert einen wahren Albtraum gemacht hat ...« - »wie der Albtraum von Jana Pape: Wände, die sich auf einen zubewegen und man nicht von der Stelle kommt, brrr ...« - »... Susanne Neumann, du verwandelst Laras Tochter in eine Furie, und Bernd wird in einem futuristischen Labor kaltgestellt, deine Fantasie möchte ich ...« - »... auch nicht schlecht dieser Horror von Barbara Drückes, nachts im Meer zu ersaufen ...« - »Fast ersaufen, ich habe sie ja gerettet, aber der wahre Albtraum, Bettina Köster, du hast IHN zum Dämon gemacht, ER ist ein Albtraum ...«
Alle sahen lachend hinüber zu Herrn Derhank, der abseits an einem Einzeltisch saß und in das Buddelschiff stierte.

»Der? Der kann noch nicht mal das Meer teilen und wieder zusammenfallen lassen wie Petra Röder ...«
Sven füllte sich sein Weinglas ein drittes Mal auf und schlurfte zu Ute Jürgens, »... Mensch, wegen dir habe ich meinen Freund Bernd an das Böse verloren ...«
Ute lachte nur, »Das Böse? Du meinst an deine Tochter, du eifersüchtiger Papa ...«
»Papa werden ist nicht und manchmal doch ganz schön schwer ...«, Martina Bracke boxte Sven fröhlich in die Seite.

»He Sven!«, rief Jule und prostete ihm zu, »ich habe dich schon zweimal auf Kurs gebracht, muss ich noch mal nachhelfen? Komm, bring's zu Ende!«
Sven griff zu dem Beutel an seinem Hals, »Lara, was haben wir hier ...?«
»Na die Murm...«
Sven zuckte zusammen, nickte, »Pscht! Es sind neu...«
Nun erschrak auch Lara, »Scht!«, doch dann lachte sie, und dann mussten sie beide lachen, »die Schlimmste ist die NEUNTE MURMEL! Hahaha!«
Sven kramte eine Glaskugel aus dem Beutel hervor und rief: »Mike?! Mikaelus, komm her, schnipp noch einmal die Kugel!«

Mike kletterte in kindlicher Anstrengung auf den Tisch, nahm die Murmel und schnippte sie mit einer Wucht, die man dem Knirps nicht zugetraut hätte, in die Höhe. Das Schlagzeug rasselte.
»Um die Insel ...«
»Mike gegen IHN ...«
Irgendwer rief: »Eins ...!«, und ein Knall zeriss Luft und Kugel, die Band spielte einen Tusch, Glasstaub rieselte auf das Festmahl hinab.

Herr Derhank saß unbeteiligt vor dem Buddelschiff, in der linken Hand die Uhr und die rechte im Schoß ... nur der auf dem Tisch liegende Revolver verriet rauchend, was geschehen war.

Mike lachte, ja, das macht Spaß, er schnippte, noch fester als zuvor, die zweite Murmel in die Luft, Schlagzeugrasseln, »Zwei ...« kam es verhalten von hier und da, wieder ein Knall, wieder ein Tusch und wieder zerspritzte die Kugel zu Glasstaub. Der Revolver qualmte. Mike gluckste.

»Drei ...« riefen bei der Nächsten schon mehr Leute, PENG, machte es, und KLIRR und Mike schnippte weiter, Trommelwirbel, »Vier!«, PENG, KLIRR, Mike hüpfte, tanzte, johlte auf dem Tisch und warf zwei Kugeln gleichzeitig, »Fünfsechs!« PENGPENG KLIRRKLIRR, »Sieben!!!«, krähte der Rabenhorst, PENGKLIRR, »ACHT!!!« Schuss, Glasstaub, Riesenschlagzeugtusch, Applaus.

Herr Derhank behielt den Revolver nun in der Hand, leckte sich, untermalt von den bedrohlich schnarrenden Snares die Lippen, die Neunte, die Neunte war die wichtigste, und Mike ließ sich bei der am meisten Zeit. Die neunte, die unglaublich blaue Murmel, in die man reinsteigen und die anderleuts Köpfe aufblasen konnte, »Meing Rauntiff, der Detter!«, krähte der Knabe, warf sie so hoch wie keine davor, sie flog in den roten Himmel und schien für einen Moment die blaue Sonne selbst zu sein, »Sonne? Das ist der der Stern!«, rief Gisela Weiler, die verzückt zu den sirrenden Klängen tanzte, »mein Stern!«, und Herr Derhank legte an, zielte und ... »Hank, du musst dich ans Drehbuch halten!«, rief Evelyn Hasshoff, und PENG! Daneben. Kein Tusch, Stille.

»Du verdarrichter Shietkerl!«, rief Kapitän Lukas. Und Uwe Weimer schrie: »Das ist Gottes Botschaft ... die Kugel! Sie will uns zerschmettern!« Mit echtem oder nur gespieltem Entsetzen starrte er, starrten ALLE zur blauen Asteroidensonne, die sich drehte und dann langsam zur Erde fiel, auf die Insel stürzte ... und mit lautem Klirren zerbarst das Buddelschiff, zerbarst auch die Murmel und es war, als zerberste sogar der rote Himmel, der tatsächlich in blitzförmigen Linien zersplitterte, aufriss und ringsum am Horizont in sich zusammenfiel - und das Blaue dahinter freigab. Die versinkenden roten Riesenscherben ließen das Meer in die Höhe fahren und seine Gischt verspritzen.

Einer der Murmelsplitter schlug gegen die goldene Uhr, es gab einen kleinen Funken und ... Sven hielt Lara fest im Arm. »... damit wäre diese blöde Lichtsekunde wohl Geschichte!«
Die Menge hielt den Atem an ...

»Hank, lecker Wurst!«, rief Marika.
»Immer essen ...« murmelte der, ließ sich aber widerstandslos ein Stück Bratwurst in den Mund schieben und einen Kuss geben. Wobei er uns heimlich zuzwinkert ...

Die Gischt verwehte und das Festland tauchte auf.
53° 42′ N 7° 42′ O ...
Neuharlingersiel ...
Neuharlingersiel!
Als wäre nie was gewesen.
Mit seinen Kuttern, den pittoresken Häuschen und dem Funkturm, das Festland! Und im selben Moment war auch Saft auf der Leitung, die elektrischen Sounds der Band dröhnten über die Insel und zelebrierten eine orchestrale Messe. Uwe Olschewskis Tattoos tanzten dazu einen psychodelischen Reigen, während er selbst zufrieden an seinem Clausthaler nippte und die nagelneue Steinbuhne betrachtete, die sich anstelle der verwitterten Betonstümpfe ins Meer schob.

»Na so was!«, rief Sven ernüchtert, »der schöne alte Anleger ist weg ...«, und genauso ernüchternd war auch das Hupen der Fähre, die in den Hafen von Spiekeroog einfuhr.


Ende
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