'paar Schoten - Geschichten aus'm Pott
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Das Ruhrgebiet ist etwas besonderes, weil zwischen Dortmund und Duisburg, zwischen Marl und Witten ganz besondere Menschen leben. Wir haben diesem Geist nachgespürt.
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Spiekeroogyssee

Kapitel 02 – Der Stern

So, 31.05.2009, 0.30 Uhr (Pfingsten)

Ein seltsames Leuchten weckte Sven. Er brauchte einen Moment, bis ihm die turbulenten Ereignisse des vergangenen Abends wieder einfielen. Die Nachricht von der Flaschenpost hatte sich wie ein Lauffeuer auf der Insel verbreitet und unter den von den Strapazen der Isolation gezeichneten Bewohnern für ungewöhnlich gute Laune gesorgt.

Seit einem Jahr kämpfte man ums nackte Überleben. Ein Jahr, in dem der Tod fast jeden Tag den kleinen Ort heimgesucht hatte; seine 780 Einwohner und die fast 4000 Touristen, die sich am Abend der Sturmflut auf der Insel befanden. Ein Jahr, in dem die gegenseitige Hilfe der ersten Tage bald umgeschlagen war in immer grausamere Verteilungskämpfe; Inselbewohner gegen Touristen, Gesunde gegen Kranke, Junge gegen Alte. Verhungert war fast niemand, aber die Angst vor dem Hunger hatte alsbald jeden nur noch an sich selbst denken lassen. Die Menschen starben an Krankheiten, ertranken bei dem Versuch, die Insel schwimmend zu verlassen, sie erfroren im Winter oder wurden Opfer von Gewalttätigkeiten. Im Februar 2009 lagen im zweckentfremdeten Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer 2700 Menschen begraben - darunter auch Svens Eltern. Erst dann war man bereit, sich einem »Ältestenrat« unterzuordnen, dem es gelang, so etwas wie eine neue Ordnung herzustellen. Das Meer und eine im sandigen Boden ertragswarme Landwirtschaft ernährten seitdem die Überlebenden mehr schlecht als recht.
Und nun gab es die Flaschenpost eines kleinen, versponnenen Jungen, die Sven den Ältesten überlassen musste. Post vom Festland, an dessen Existenz bald niemand mehr geglaubt hatte. Längst waren viele Spiekerooger davon überzeugt, dass es nur noch sie gab. Die ganze Welt hieß Spiekeroog. Eine große blaue Erdkugel im Weltall; und irgendwo darauf ein winziger Flecken Land. Eine »blaue Murmel«! Sven musste grinsen, als er an den Brief dachte. Verloren im ... wie hatte es in der Flaschenpost gestanden, im »Raum-Zeit-Kontinuum«? Nein, das Wort war ein anderes, ein Fremdwort, »Dialektik« ... wie konnte ein Neunjähriger solche Wörter kennen? Physik! Sven schüttelte den Kopf. In Physik ging es um Naturgesetze! Aber das hier? Was hatte das hier mit Naturgesetzen zu tun? Mit Naturgewalten vielleicht.

Er sah zum Fenster. Blaues Leuchten. Das war es, was ihn geweckt hatte! Blau hatte es auch in jener Nacht geleuchtet, vor der Sturmflut. Sven gehörte zu den wenigen Insulanern, die, bevor die Gewitterwolken das Firmament verdeckten, den Asteroiden gesehen hatten. Eine blau leuchtende Kugel am Himmel.

Ein Stern, hatte er damals gedacht. Ein Stern, der in wenigen Minuten die Welt zerschmettern würde. So etwas Ähnliches ist ja dann auch geschehen. Oder würde noch geschehen ... Er dachte an Lara. An den kleinen Nussbaum, den sie vor wenigen Wochen umgetopft hatte. Das gefiel ihm.
Es wurde heller.

Wenige Minuten. Sollte sich in dieser Zeit entscheiden, ob er es noch schaffen würde, SEINEN Baum zu pflanzen? Überhaupt einen Baum? Würde er noch einen Gedanken angstfrei zu Ende bringen und erhalten können bis zum unausweichlichen Ende? Würde es das überhaupt geben, ein unausweichliches Ende? Hatte er überhaupt schon gelebt, schon richtig gelebt oder, wie man so sagte, bisher nur wenig? Viele Splitter sammeln sich in seinem Kopf und schienen nur auf einen Anstoß zu warten.

Er würde nicht kämpfen, wogegen denn auch. Er würde die verbleibende Zeit planvoll nutzen, jede Minute auskosten, als wäre sie die erste in seinem Leben. Lara und das, was ihn zu ihr hinzog, waren ein Schlüssel dazu, das war ihm klar.

Lara ging nicht nur mit ihm, sie war auch sein wichtigster Kumpel seit der letzten gemeinsamen Silvesterfeier, damals mit seinen Eltern, als er sich mit ihr zurückgezogen hatte, um vom Garten aus den Sternenhimmel zu betrachten. Sein Vater hatte ihn gebeten, das Teleskop aus dem Gartenhäuschen zu holen und auf der Wiese an der Terrasse aufzubauen. Es sollte eine Überraschung für Svens Mutter geben. Mehr hatte er nicht verraten und alle waren schon sehr gespannt. Sven ließ das Licht seiner Fischöllampe über den Rasen gleiten und ging voran. Lara folgte ihm in kurzem Abstand. Er reichte ihr die Hand und zog sie hinter sich her über das Gelände, das hinter der Wiese mit widerhakenden Bodendeckern bewachsen war. Es war, als störten sie nicht nur den Winterschlaf des Gartens, sondern auch die besondere Ruhe der Neujahrsnacht. Dabei bewegten sie sich nur leise - als Teile im Frieden dieser Nacht. Ein kleiner Nager, der tagsüber schon mal zwischen den Gräsern am Goldfischteich hin- und herflitzte, um dann am Vogelhäuschen haltzumachen, verharrte zunächst im Schein der Flamme. Danach verschwand er blitzschnell im angrenzenden Gebüsch und nur ein leises Rascheln verriet noch seine Spur, bis die Nacht seine Laute verschluckte.

Den Rückweg vom Gartenhaus zur Wiese traten sie in umgekehrter Reihenfolge an. Nun leuchtete Lara den Weg ab und bot Sven ihren Arm an. Er mochte ihre Unbefangenheit und Wärme. Unter der Lampe schwenkte sie den Beutel mit dem Stativ und den Linsen. Sven hatte sich das schwere Teleskop genommen. Er war ja nun 16, also ein Mann! Sie beeilten sich, das Gerät noch vor Mitternacht aufzustellen, denn sie fühlten, dass diese Nacht etwas Besonderes sein würde.

Svens Eltern traten gemeinsam auf die Terrasse hinaus. Sein Vater nahm seine Frau behutsam in den Arm und führte sie an das Teleskop. Er ließ sie ihren Stern ansehen und überreichte ihr dazu eine Urkunde über den auf ihren Namen getauften Stern, sein Geburtstagsgeschenk für sie, das die Menschheit überdauern würde. Er nahm ihre Hand, neigte sich zu ihr und küsste sie zärtlich auf die Wange. Alle hatten die Magie des Augenblicks gespürt.

Nur wenige Wochen später hatte Sven sie beerdigen dürfen. Auf dem improvisierten, längst überfüllten Friedhof im Nationalpark. Aber so etwas Wunderbares, Bleibendes wie den Stern seiner Mutter musste es doch auch für Lara und ihn geben!

Er fiel in einen unruhigen Schlaf. Immer und immer wieder schreckte er hoch. Schaute sich um und drehte sich dann auf die andere Seite. Er träumte von Meteoriten, von Feuer, die sich überall ausbreiteten und er war gefangen in einem Raum ohne Türen. Er träumte, er wäre auf einem Schiff, das durch hohe Wellen schaukelte und ständig kurz davor war, unterzugehen.
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